Die Maske des Protests

Es hät­te nicht viel gefehlt am 5. Novem­ber 1605. Im Kel­ler des Lon­do­ner Par­la­ments lagern zu der Zeit 36 Fäs­ser mit Schieß­pul­ver. Eine Grup­pe katho­li­scher Ver­schwö­rer hat sie dort in mona­te­lan­ger gehei­mer Arbeit depo­niert, unter ihnen ein bär­ti­ger Mann namens Gui­do Faw­kes. Die Män­ner befin­den sich im Kampf gegen die eng­li­sche Kro­ne und die Unter­drückung der katho­li­schen Kon­fes­si­on. Ihr Ziel ist es, am 5. Novem­ber das Gebäu­de samt den Par­la­men­ta­ri­ern und König James I. in die Luft zu spren­gen. Doch bevor der Ter­ror­an­schlag umge­setzt wer­den kann, fliegt die Ver­schwö­rung auf. Gui­do – spä­ter dann »Guy« – und sei­ne Mit­strei­ter wer­den ver­haf­tet, ver­ur­teilt und hin­ge­rich­tet.

Die Erin­ne­rung an die­sen Vor­fall wird in Eng­land seit­dem wach­ge­hal­ten. Jedes Jahr am 5. Novem­ber zur »Bon­fi­re Night« ent­zün­det man Feu­er und ver­brennt Guy-Faw­kes-Pup­pen. Faw­kes fin­det dadurch auch Ein­gang in Lite­ra­tur und Film. In den 1980er Jah­ren taucht er in einem dys­to­pi­schen Comic auf: V for Ven­det­ta. Nach dem drit­ten Welt­krieg kämpft der psy­chisch gebro­che­ne und titel­ge­ben­de Frei­heits­kämp­fer V gegen einen faschi­sti­schen eng­li­schen Über­wa­chungs­staat. Zum Schutz sei­ner Iden­ti­tät ver­klei­det er sich als Guy Faw­kes mit breit­krem­pi­gem Pil­ger­hut, dunk­lem Umhang und lang­haa­ri­ger Perücke. Sein Gesicht bedeckt eine hel­le Mas­ke mit zum Grin­sen ver­zo­ge­nen Mund­win­keln, gerö­te­ten Wan­gen, geschwun­ge­nen schwar­zen Augen­brau­en sowie schwar­zem Schnurr- und Unter­lip­pen­bart.

Man merkt: Die Figur des Guy Faw­kes hat sich gewan­delt. Der über­lie­fer­te katho­li­sche Ver­schwö­rer ist im Comic in Gestalt des V zum anar­chi­sti­schen Frei­heits­kämp­fer gewor­den. Das Ein­set­zen für die selbst­be­stimm­te Frei­heit des Indi­vi­du­ums und der Gesell­schaft ist das zen­tra­le The­ma der Comic-Erzäh­lung. Nicht anders ist es in der Ver­fil­mung aus dem Jahr 2005. Am Ende des Films – das Par­la­ment wird nun tat­säch­lich in die Luft gesprengt – fol­gen Tau­sen­de dem Auf­ruf Vs, sich gegen den Unter­drückungs­staat zu Wehr zu set­zen. Unzäh­li­ge Bür­ger Lon­dons bevöl­kern die Stra­ßen, alle mit schwar­zem Umhang, Hut und Guy-Faw­kes-Mas­ke – die Macht der vie­len, die Bewe­gung von unten hat gesiegt.

2008, rund drei Jah­re nach der Pre­mie­re des Films, erle­ben die Mas­ken, die als Mer­chan­di­se-Arti­kel durch das Medi­en­un­ter­neh­men Time War­ner ver­mark­tet wer­den, eine gestei­ger­te Nach­fra­ge. Eine zunächst nicht klar aus­zu­ma­chen­de Grup­pe aus dem Inter­net legt sich gera­de mit Sci­en­to­lo­gy an. Der Pro­test gegen die US-ame­ri­ka­ni­sche Sek­te und deren dubio­se Machen­schaf­ten fin­det zunächst im Netz statt, führt aber dann schnell dar­über hin­aus. »Anony­mous«, so der Name des Inter­net­kol­lek­tivs, ruft dazu auf, den Pro­test auf die Stra­ßen und ins­be­son­de­re vor die Sci­en­to­lo­gy-Zen­tra­len zu tra­gen. Als Schutz vor den restrik­ti­ven Maß­nah­men der Sek­te sol­le man sich ver­mum­men. Das tun vie­le mit eben jener Mas­ke.

We are Anonymous

Die Anfän­ge von Anony­mous rei­chen jedoch noch ein paar Jah­re zwei­ter zurück. Sie sind unter ande­rem mit der Web­sei­te 4chan.org ver­bun­den. Die Sei­te, die so man­che Nut­zer unter Umstän­den ver­stört, rat­los oder ange­wi­dert zurück­lässt, ist ein bul­le­tin board, auf dem Tex­te und Bil­der ein­ge­stellt wer­den. Dazu exi­stie­ren nur weni­ge Regeln, Kin­der­por­no­gra­fie bei­spiels­wei­se ist ver­bo­ten. Anson­sten trifft man hier alles an, vom fach­sim­peln­den Kfz-Unter­fo­rum bis zur schril­len japa­ni­schen Por­no­bild­samm­lung. Nut­zer, die hier Tex­te oder Bil­der hoch­la­den, machen das stan­dard­mä­ßig anonym. Haben sie sich also nicht extra ange­mel­det, wird als Autor eines Bei­trags „Anony­mous“ ange­zeigt.

Aus die­ser Ursup­pe namens 4chan.org und wei­te­rer bul­le­tin boards rekru­tie­ren sich Mit­te der 2000er Jah­re die ersten Anony­mous-Akti­vi­sten. Sie machen zunächst nur durch ver­ein­zel­te Spaß-Aktio­nen auf sich auf­merk­sam. So trei­ben sie bei­spiels­wei­se den rechts­po­pu­li­sti­schen Radio­mo­de­ra­tor Hal Tur­ner durch Tele­fon­strei­che in den Wahn­sinn. Oder sie ver­der­ben Grup­pen von Har­ry-Pot­ter-Fans den Lese­ge­nuss des gera­de erschie­ne­nen Ban­des. Was hier zu Tage tritt: Anony­mous ist eine Sub­kul­tur mit einem ganz eige­nen, zum Teil sehr schrä­gen Humor, in der Spä­ße und Strei­che eine gro­ße Rol­le spie­len. Ein über­ge­ord­ne­tes Ziel ist bei vie­len Aktio­nen des Kol­lek­tivs – gera­de in der Anfangs­zeit – nicht unbe­dingt aus­zu­ma­chen.

Außer­dem besitzt Anony­mous kei­ne zen­tra­le Hier­ar­chie. Inter­es­sier­te fin­den über Foren und Chats Gleich­ge­sinn­te und neh­men dann spon­tan an einer Akti­on teil. Das alles pas­siert natür­lich unter dem Deck­man­tel der Anony­mi­tät. Kei­ner tritt unter sei­nem Klar­na­men auf, son­dern denkt sich ein eige­nes Pseud­onym aus. Auch wenn es zahl­lo­se Mani­fe­ste und Pam­phle­te gibt, die von meh­re­ren Anony­mous-Anhän­gern gleich­zei­tig ver­fasst wer­den: Sie alle fin­den sich unter dem Mot­to des Kol­lek­tivs zusam­men, das ins­be­son­de­re durch die Aktio­nen gegen Sci­en­to­lo­gy 2008 auch einer brei­te­ren Öffent­lich­keit bekannt wird: »We are Anony­mous. We are legi­on. We do not for­gi­ve. We do not for­get. Expect us.«

Freiheit, Internet, Gerechtigkeit

Die Aktio­nen von Anony­mous bekom­men seit 2008 auch zuneh­mend einen ern­ste­ren Cha­rak­ter. Immer öfter geht es um Fra­gen der Gerech­tig­keit, um die Ver­tei­di­gung von Rede­frei­heit, den Kampf gegen Zen­sur und aus­ufern­de Kon­trol­le. In die­sem Zusam­men­hang bleibt das »Pro­ject Cha­no­lo­gy«, in des­sen Ver­lauf die Inter­net-Gue­ril­la Sci­en­to­lo­gy aufs Korn nimmt, nicht mehr allein auf die USA beschränkt. In Metro­po­len rund um den Glo­bus tref­fen sich Grup­pen von Akti­vi­sten vor den Zen­tra­len der Sek­te. Die mei­sten sind mas­kiert oder ander­wei­tig ver­mummt, die Guy-Faw­kes-Mas­ke ist dabei oft die bevor­zug­te Ver­klei­dung. Sie wird im wei­te­ren Ver­lauf der immer medi­en­wirk­sa­mer agie­ren­den Inter­net­be­we­gung zum Mar­ken­zei­chen. Spre­cher von Anony­mous nut­zen die Mas­ke für Fern­seh­in­ter­views, Video­bot­schaf­ten des Kol­lek­tivs kom­men nicht mehr ohne aus, viel­fa­che Bastel­an­lei­tun­gen zum Selbst­aus­drucken und Zuschnei­den kur­sie­ren im Netz.

Aktio­nen, wie die­je­ni­ge gegen Sci­en­to­lo­gy, blei­ben nicht punk­tu­ell. Anony­mous macht sich in der Fol­ge­zeit mit wei­te­ren Aktio­nen bemerk­bar. Jetzt trifft es auch Unter­neh­men wie Paypal, Visa und Master­card. Als die Finanz­un­ter­neh­men Ende des Jah­res 2010 die Kon­ten von Wiki­leaks sper­ren, droht die Ent­hül­lungs­platt­form auf dem Trocke­nen zu sit­zen. Wiki­leaks, das durch spek­ta­ku­lä­re Ver­öf­fent­li­chun­gen gehei­mer Doku­men­te auf sich auf­merk­sam macht, sieht sich dar­über hin­aus auch geziel­ten Sabo­ta­ge­ak­tio­nen sei­ner Web­prä­senz und Ser­ver aus­ge­lie­fert. Die Soli­da­ri­sie­rung von Anony­mous mit der Ent­hül­lungs­platt­form lässt nicht lan­ge auf sich war­ten. Hun­der­te Ser­ver gehen welt­weit online, auf denen die bri­san­ten Wiki­leaks-Daten eben­falls gespei­chert und ver­füg­bar gehal­ten wer­den. Hacker des Anony­mous-Kol­lek­tivs gehen gegen die Inter­net­sei­ten der Finanz­un­ter­neh­men vor und legen die­se für län­ge­re Zeit lahm. Höhe der finan­zi­el­len Ein­bu­ßen: unbe­kannt.

Hacktivismus

Wirft man einen Blick auf die Liste der Aktio­nen, die von Anony­mous seit­dem durch­ge­führt wur­den, wird schnell klar: Die Inter­net-Gue­ril­la ist umtrie­big, auch wenn sie sel­te­ner auf sich auf­merk­sam macht. Das mag auch damit zusam­men­hän­gen, dass 2013 hohe Haft- und Buß­geld­stra­fen für Anony­mous-Hacker ver­hängt wer­den, beson­ders in den USA und Groß­bri­tan­ni­en. Den­noch rei­ßen die Aktio­nen nicht ab. Anony­mous nimmt fort­an mäch­ti­ge Geg­ner ins Visier, den Geheim­dienst NSA etwa, den Isla­mi­schen Staat oder die mexi­ka­ni­sche Dro­gen­ma­fia.

Bei den mei­sten sei­ner Aktio­nen kämpft Anony­mous mit den Mit­teln des Inter­net. In den Anfangs­jah­ren – noch gera­de­zu harm­los – macht man sich einen Spaß dar­aus, schwar­ze Sei­ten an Fax­ge­rä­te zu schicken, um den Toner oder die Tin­te des Geräts auf­zu­brau­chen. Web­sei­ten wer­den im Aus­se­hen ver­än­dert und mit eige­nen Bot­schaf­ten ver­se­hen, Ser­ver mit der­ar­tig vie­len Anfra­gen über­schwemmt, dass sie tage­lang nicht zu errei­chen sind. E‑Mailadressen wer­den mit Tau­sen­den von sinn­lo­sen oder sehr gro­ßen Nach­rich­ten geflu­tet. Das sind nur eini­ge der gän­gi­gen Vor­ge­hens­wei­sen.

Für die­se Form des Pro­tests hat sich seit Ende der 1990er Jah­re der Begriff «Hack­ti­vis­mus« durch­ge­setzt, ein Kunst­wort aus »Hacken« und »Akti­vis­mus«. Das »Hack­ing« ver­bin­det sich hier­bei mit dem Ein­satz für poli­ti­sche Zie­le. Die­se Form des Akti­vis­mus wird beson­ders attrak­tiv, als das Inter­net in immer mehr Lebens­be­rei­che vor­dringt, als Inter­net­dien­ste auf ein­mal Mil­lio­nen Nut­zer zäh­len und ele­men­tar für den Betrieb von Unter­neh­men oder Behör­den wer­den. Anony­mous hat die­se Form der poli­ti­schen Pro­test­kul­tur zwar nicht begrün­det, sie aller­dings für die brei­te Öffent­lich­keit zum ersten Mal weit­hin sicht­bar wer­den las­sen.

Ikone der Protestkultur

Und was ist aus der Guy-Faw­kes-Mas­ke gewor­den? Sie ist natür­lich nach wie vor das unver­wech­sel­ba­re Erken­nungs­zei­chen von Anony­mous. Dar­über hin­aus bedie­nen sich aber auch immer mehr ande­re Pro­test­be­we­gun­gen ihrer sym­bo­li­schen Wir­kung. Wäh­rend der Occu­py-Wall­street-Pro­te­ste 2011 und 2012 sind die Faw­kes-Mas­ken fester Bestand­teil der Pro­test­ak­tio­nen. Die euro­pa­wei­ten »Freiheit-statt-Angst«-Demonstrationen gegen Inter­net­zen­sur und ‑kon­trol­le sind schon allein auf­grund ihres Anlie­gens prä­de­sti­niert, die Mas­ke zu ver­wen­den. Aber auch wäh­rend des Ara­bi­schen Früh­lings oder den Pro­te­sten im Zuge der grie­chi­schen Schul­den­kri­se ist die Mas­ke immer mit von der Par­tie, auch wäh­rend den Demon­stra­tio­nen gegen die Frei­han­dels­ab­kom­men TTIP und CETA. Die Guy-Faw­kes-Mas­ke ist zur Iko­ne der Pop- und Pro­test­kul­tur gewor­den, sicher­lich auch zur Freu­de des Lizenz­ge­bers Time War­ner.


Zuerst ver­öf­fent­licht in: Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin (Hg.): Netz-Din­ge. 30 Geschich­ten. Vom Tele­gra­fen­ka­bel bis zur Daten­bril­le, Ber­lin 2018.
Objekt­fo­to: Cle­mens Kirch­ner, Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin


Lite­ra­tur:

Cole­man, Gabriella/Laaf, Mei­ke: »Es geht um das Bekennt­nis zu LULZ«, 2011. (Stand 17.10.2017)

Han­sen, Patrick: Die kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät von Anony­mous. Was sich hin­ter der Mas­ke ver­birgt, Frei­burg 2015.

Moo­re, Alan/Loyd, David: V for Ven­det­ta, Heft 2, 1988.

Quinn, Nor­ton: The Year Anony­mous Took On Cops, Dic­ta­tors and Exi­sten­ti­al Dread, 2011. (Stand 17.10.2017)

Reiss­mann, Ole/Stöcker, Christian/Lischka, Kon­rad: We are Anony­mous. Die Mas­ke des Pro­tests. Wer sie sind, was sie antreibt, was sie wol­len, Mün­chen 2012.

Schulz­ki-Had­dou­ti, Chri­stia­ne: »Wiki­leaks und das Ide­al der Öffent­licht­keit«, in: Herb, Ulrich (Hg.): Open Initia­ti­ves: Offen­heit in der digi­ta­len Welt und Wis­sen­schaft, Saar­brücken 2012, S. 185–203.