Leidfaden des Radreisens

Es ist unge­wohnt. Die Gepäck­ta­schen sind schwer. Oben auf liegt noch der gan­ze Über­nach­tungs­kram, Zelt, Mat­te, Penn­tü­te. So eine Gewichts­ver­tei­lung war noch nie, da muss ich üben. Es ist 10 Uhr und ich begin­ne mei­ne Rei­se nach Nord­rhein-West­fa­len und zurück. Ich habe mir drei Wochen Zeit genom­men. Erst­mal durch den Ber­li­ner Auto­ver­kehr – Mad Max Fury Road über Kant- und Heer­stra­ße raus nach Bran­den­burg. Die neu­en Pop-Up-Rad­we­ge erleich­tern es etwas. Nichts­de­sto­trotz sind die vier­räd­ri­gen Stin­ke­kut­schen mehr als nerv­tö­tend. Unter­wegs über­ho­len mich klei­ne Kin­der auf noch klei­ne­ren Fahr­rä­dern. Die 50 Kilo­gramm Zusatz­ge­päck sind ein­fach zu viel. Gehe im Geist noch mal alle Gegen­stän­de durch, die ich glaub­te, unbe­dingt auf mei­ner Rei­se zu benö­ti­gen. Am Ende las­se ich Fön, Mine­ra­li­en­samm­lung und Bohr­ma­schi­ne am Weges­rand zurück. Irgend­je­mand wird die Sachen schon gebrau­chen kön­nen.

In Bran­den­burg hört der Fahr­rad­weg auf und ich wechs­le auf die Stra­ße, dort wo schwer bela­de­ne LKWs in Licht­ge­schwin­dig­keit an mir vor­bei­bret­tern. Am Abend wer­de ich mei­nen Mit­tel­fin­ger nicht mehr spü­ren kön­nen. Es ist trotz­dem natür­lich schön hier. Die Bran­den­bur­ger Alleen – Ah, Oh. Fon­ta­ne – Ah, Oh. Nach zwei Stun­den gera­te ich plötz­lich in eine Art Dis­ney-World-Stra­ße des Out­let-Kon­sums. Panisch tre­te ich in die Peda­le und bin flugs auf einem Feld­weg, den ich in sei­ner vol­len Brei­te befah­ren kann. Dort sehe ich schon von Wei­tem eine Bran­den­bur­ger Schön­heit auf mich zukom­men. Sie gibt mir ein­deu­ti­ge Zei­chen. Ihr blon­des Haar umweht ihren Kopf in Zeit­lu­pe, ihre Lip­pen sind zum Kuss geschürzt – und schon knat­tert sie mit ihrem High-Tech-Trecker an mir vor­bei, »Du Arsch­loch!« mei­ne ich im Lärm ver­stan­den zu haben. Bran­den­bur­ger Humor ist der beste Humor der Welt!

Am frü­hen Abend kom­me ich in Kamern an. Ein wun­der­ba­rer Zelt­platz mit alten Eichen, direkt neben einem klei­nen See gele­gen. Die Platz­che­fin for­dert mich unver­se­hens zum Schwim­men auf, das las­se ich aller­dings blei­ben, ich bin doch nicht blöd. Statt­des­sen baue ich das Zelt auf und ver­kle­be noch schnell die hand­tel­ler­gro­ßen Löcher dar­in mit cir­ca 230 Fahr­rad­flicken. Danach mach ich es mir in mei­ner Cam­ping­gar­ni­tur gemüt­lich, flö­ße Whis­key und Ravio­li ein. Wäh­rend­des­sen fällt mir eine Eichel auf den Kopf. Ich begin­ne zu wei­nen und bege­be mich schnur­stracks ins Bett. Bevor ich gänz­lich ein­ge­schla­fen bin, höre ich noch wil­de Säu­ge­tie­re um mein Zelt her­um­schar­wen­zeln. End­lich Natur – wie beru­hi­gend!

Zweiter Tag

Mor­gens erwa­che ich frisch und aus­ge­ruht, Früh­ne­bel liegt über den Wie­sen. Ein klei­nes Shet­land-Pony glotzt ver­pennt in den Son­nen­auf­gang. Wir grü­ßen uns wort­los und ich set­ze mei­nen Weg ent­lang der Havel fort. In Havel­berg betre­te ich eine Apo­the­ke und kau­fe Mobi­lat-Creme, die man sehr gut als Poma­de ver­wen­den kann. Eine gut­sit­zen­de Fri­sur ist mir gera­de beim Rad­fah­ren wich­tig!

Eine Fäh­re bringt mich über die Elbe. Hier fal­le ich kurz in einen Trance-Zustand, denn ich mer­ke sehen­den Auges nicht, wie das Schiff das ande­re Ufer erreicht. Komisch. Wei­ter nun ent­lang des Elbe­rad­wegs, wo mich schon bald der Hun­ger befällt. Mei­ne Vor­rä­te sind bereits auf­ge­braucht. Allei­ne die Tief­kühl­piz­zen sind noch da, dar­auf habe ich aber gera­de kei­nen Appe­tit. Ich hal­te Aus­schau nach einer Pom­mes­bu­de. Fehl­an­zei­ge. Viel­leicht sind Pom­mes bei den Elb­be­woh­nern unbe­kannt? Wür­de mich nicht wun­dern. Die gan­ze Gegend ist ja noch wei­test­ge­hend uner­schlos­sen. Ich tri­an­gu­lie­re ein wenig, zeich­ne Flo­ra und Fau­na und lege ein Wör­ter­buch des hie­si­gen Idi­oms an. Dann muss es wohl doch die Piz­za sein, ab in die Mikro­wel­le damit.

Wei­ter, immer wei­ter ent­lang des Flus­ses, der sich wie eine blaue Ana­con­da durch die Land­schaft schlän­gelt. Ich begin­ne der­weil Selbst­ge­sprä­che zu füh­ren, dann sin­ge ich lei­se vor mich hin, dann immer lau­ter und als ich gera­de schrei­en möch­te, macht es »Krrrrchchch­ch­krrrr«. Kein Zwei­fel, der Gei­ger­zäh­ler! Gera­de noch recht­zei­tig wer­fe ich mir mei­nen Strah­len­schutz­an­zug über. Das Orts­ein­gangs­schild von Gor­le­ben ist nur eini­ge Meter weit ent­fernt. In Dan­nen­berg bin ich froh, das doo­fe Ding wie­der abstrei­fen zu kön­nen. Es ist doch ziem­lich unbe­quem beim Fah­ren. Außer­dem tut mir jetzt immer öfter der Hin­tern weh.

Mein Tages­ziel ist Hitz­acker, ein Flecken am Rand der zivi­li­sier­ten Welt. Hier möch­te ich mei­nem alten Freund Anto­nio einen Besuch abstat­ten. Auf sei­nem Anwe­sen emp­fängt er mich äußerst herz­lich. Wir fal­len uns trotz Pan­de­mie in die Arme, denn schließ­lich haben wir uns 23 Jah­re lang nicht gese­hen. Mein wie­der lee­rer Magen for­dert jedoch sei­nen Tri­but. So machen wir uns direkt auf zum ein­zi­gen Ster­ne-Restau­rant des Ortes. Hier prä­sen­tiert uns die Wir­tin mit­hil­fe einer zwei Meter gro­ßen Spei­se­kar­te die Spe­ze­rei­en des Hau­ses. Wir ent­schei­den uns für den Schwei­ne­bra­ten mit Kro­ket­ten.

Gut gesät­tigt fla­nie­ren wir hin­un­ter zur Elbe und dis­ku­tie­ren die Welt­la­ge. Da erwischt uns ein Wol­ken­bruch mit vol­ler Wucht. Nass bis auf die Haut tre­ten wir den Rück­weg an. Zuhau­se hän­gen wir die nas­sen Sachen über den Kamin, rau­chen noch eine Pfei­fe und ver­ab­schie­den uns für die Nacht­ru­he. Ich schla­fe nackt auf dem Fell vor dem pras­seln­den Kamin­feu­er ein.

Dritter Tag

Das On-the-Road-Gefühl hat sich schon tief ein­ge­brannt. Die Stra­ße ruft. Abschied. Sehr früh mor­gens set­ze ich mei­ne Rei­se fort – und unter­schät­ze die Wet­ter­la­ge. Bei minus fünf Grad wach­sen mir Eis­zap­fen an der Nase, die ich vor­sich­tig ent­fer­ne und in die Kühl­box lege. Wer weiß, wozu die noch gebraucht wer­den kön­nen. Wie­der bekom­me ich Pro­ble­me mit mei­nem Aller­wer­te­sten. Das kann nicht so wei­ter­ge­hen! In Uel­zen mache ich daher Rast und suche kur­zer­hand das näch­ste Tex­til-Fach­ge­schäft auf. Hier erwer­be ich eine magi­sche Unter­ho­se mit Sitz­pol­ste­rung. Sofort nach dem Anklei­den sind alle Beschwer­den wie weg­ge­bla­sen. Noch etwas Mobi­lat-Creme ins Haar und es kann wei­ter­ge­hen – auf der läng­sten Etap­pe mei­ner Rei­se hin­un­ter nach Han­no­ver. Doch kurz hin­ter der Stadt­gren­ze weckt ein Laden­schild mei­ne Auf­merk­sam­keit: »Ori­gi­nal Uelz­e­ner Sül­ze«. Sofort knurrt der Magen und ich kau­fe ein gro­ße Por­ti­on, die ich als Früh­stück ver­spei­se. Das Peter­si­li­en­sträuß­lein jedoch klem­me ich mir als Schmuck an den Len­ker.

Nun­mehr satt, ohne Schmer­zen und völ­lig ent­hemmt stel­le ich neue Geschwin­dig­keits­re­kor­de auf. Von der Land­schaft weiß ich nicht mehr viel. Zunächst ein gro­ßer, wohl­rie­chen­der Wald und dann Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, Mais, und Mais! Auf dem Weg fällt mir die Viel­zahl an Elek­tro­fahr­rä­dern auf. Wo sind denn die nor­ma­len Zwei­rä­der geblie­ben? Stän­dig wer­de ich von joh­len­den Senio­ren­ban­den über­holt. Wenn das die Zukunft der Mobi­li­tät ist, dann ohne mich!

Um 19 Uhr errei­che ich Gehr­den, unweit von Han­no­ver. Ich quar­tie­re mich im Hotel Rats­kel­ler ein. Des­sen Restau­rant besitzt zwar kei­ne Miche­lin-Bewer­tung – des­we­gen für mich eigent­lich ein No-go – aber gut, es ist Urlaub, da las­se ich Fün­fe gera­de sein. Aus dem Smo­king, den ich seit drei Tagen tra­ge, beför­de­re ich mei­ne Ame­ri­can Express Black und bestel­le Mar­ti­ni. Der karier­te Mann am Nach­bar­tisch mustert mich pikiert. Etwas ein­ge­schüch­tert, was mei­ne hand­ge­säg­te ita­lie­ni­sche Son­nen­bril­le mut­maß­lich über­spielt, ver­las­se ich den Schank­raum und bege­be mich in mein Zim­mer. Hier knab­be­re ich noch ein wenig an einem Bio-Scho­ko­rie­gel. Als Sascha Hehn das letz­te Mal als Kapi­tän von Bord des Traum­schiffs geht, fal­le ich in einen unru­hi­gen Schlaf.

Der Traum

Ich ste­he zusam­men mit einem Mann in einem weiß geka­chel­ten Bade­zim­mer. Er dreht sich irr­sin­nig lang­sam um, irgend­wie in der Art von Klaus Kin­ski, nur noch lang­sa­mer. Ich erken­ne jedoch: Sascha Hehn. Er trägt ein Reform­kleid des spä­ten 19. Jahr­hun­derts, wal­lend, ohne Kor­sett. Sein Lächeln ist gewin­nend. Das Bad füllt sich lang­sam mit Was­ser und wir schwim­men ein wenig umher. Als der Pegel immer wei­ter steigt, gera­ten wir in Panik. Ich tau­che auf den Grund, ver­hed­de­re mich kurz­zei­tig in der wabern­den Gesamt­aus­ga­be der Leit­fä­den des Deut­schen Muse­ums­bun­des und zie­he den Stöp­sel. Gro­ßes Gegur­gel. Mir wird schwarz vor Augen. Als ich erwa­che, lie­ge ich am Boden. Die Bade­zim­mer­tür wird auf­ge­sto­ßen. Drau­ßen steht ein Chor uni­for­mier­ter Schul­mäd­chen, der den Satz singt: »Herr Degen­hardt ist da!« Flucht­ar­tig ver­lässt Sascha den Raum.

Vierter Tag

Ich wache natür­lich schweiß­ge­ba­det auf. Zum Glück besit­zen die Räum­lich­kei­ten hier eine die­ser moder­nen eben­erdi­gen Raind­ance-Duschen. Ich wasche mir den schlech­ten Traum aus dem Gedächt­nis, put­ze mei­ne Zäh­ne, fei­le Fin­ger- und Fuß­nä­gel, Mobi­lat-Creme nicht ver­ges­sen, strei­fe die Kla­mot­ten über, schnü­re das Expe­di­ti­ons­ma­te­ri­al zusam­men und bin weg. Der Weg führt mich heu­te nach Bie­le­feld, wo ich mei­ne Freun­de Nata­scha und Vlad besu­chen möch­te. Doch bis dahin ist es noch weit, was mir nichts aus­macht, denn der Weg ist das Ziel.

Ich pfei­fe ein Lied­chen und schon bin ich in Stadt­ha­gen, das ich fälsch­li­cher­wei­se für Bücke­burg hal­te. Auf dem Markt­platz, der mit Irish Cof­fee schlür­fen­den Tou­ri­sten über­füllt ist, fra­ge ich eine älte­re Dame nach der Wir­kungs­stät­te von Wil­helm Gott­fried Her­der, die doch hier in der Umge­bung sei­en müs­se. Ein unwir­sches »Nur Idio­ten!« zer­stört mei­ne Bil­dungs­träu­me und wir gera­ten in Streit, in des­sen Ver­lauf ich die Groß­mutter zu Boden rin­gen kann. Bereits nähern sich zwei Strei­fen­po­li­zi­sten, denen ich die Übel­tä­te­rin über­ge­be. Sie bedan­ken sich über­schwäng­lich, denn ich habe wohl eine gesuch­te Trick­be­trü­ge­rin gefasst. Nun­mehr total zer­zaust, fische ich einen fri­schen Smo­king aus dem Gepäck, wasche mein Gesicht im Brun­nen und wer­fe mich wie­der aufs Rad.

Im rich­ti­gen Bücke­burg – Her­der kann mir nun­mehr gestoh­len blei­ben – ver­brin­ge ich mei­ne Mit­tags­pau­se. Auf der Wie­se vor dem Schloß ent­fal­tet sich jetzt eine klei­ne Cho­reo­gra­fie, die sich auf mei­ner Rei­se oft­mals wie­der­ho­len wird: Ich lege eine alte Dark-Jazz-Plat­te auf, klap­pe die Cam­ping­gar­ni­tur aus­ein­an­der, span­ne den Son­nen­schirm auf, hei­ze den Ofen an, stel­le eine Vase fri­scher Schnitt­blu­men auf den Tisch und schlüp­fe für die Zeit mei­ner Mit­tags­pau­se in den beque­me­ren Kaf­tan. Heu­te gibt es Coq au vin – lecker!

Am Spät­nach­mit­tag errei­che ich die Aus­läu­fer des Teu­to­bur­ger Wal­des, eine Her­aus­for­de­rung, denn Stei­gun­gen muss­te ich mit dem neu­en Rad noch nicht über­win­den. Ich absol­vie­re die ersten Höhen­me­ter, die ersten von ins­ge­samt 8.023 auf die­ser Fahrt. Jetzt macht sich das Kraft­trai­ning bezahlt, mei­ne äußerst mus­ke­lö­sen Bei­ne arbei­ten wie ein gut geöl­tes Uhr­werk. Nach Her­ford hin­un­ter las­se ich ein­fach rol­len, der Fahrt­wind ist stark, doch die Fri­sur sitzt. Ich bin etwas unter Zeit­druck gera­ten, da ich in Bie­le­feld zum Abend­essen ver­ab­re­det bin. Des­we­gen schie­ße ich in Her­ford nur ein Foto vom dor­ti­gen Muse­um of Modern Art.

Ich kom­me wohl­be­hal­ten in Bie­le­feld an und wer­de herz­lich von Vlad und Nata­scha begrüßt, die in einer berühm­ten Künst­ler­kom­mu­ne woh­nen. Wir trin­ken erst­mal meh­re­re klei­ne bun­te Fläsch­chen und rau­chen eine Schach­tel Ziga­ret­ten leer. Die Wie­der­se­hens­freu­de ist groß, der Durst auch, der Hun­ger – wie­der­mal – auch. Wir besu­chen daher noch schnell ein Bie­le­fel­der Sze­ne­re­stau­rant und hier kommt nun mei­ne Suche nach Pom­mes an ihr Ende. Danach schla­fe ich qua­si schon im Gehen ein und bekom­me gera­de noch mit, wie mich Nata­scha und Vlad lie­be­voll zudecken.

Fünfter Tag

Heu­te pau­sie­re ich vom Rad­fah­ren und stol­zie­re etwas in der Stadt umher. Unweit des Ade­nau­er­plat­zes sto­ße ich auf das hie­si­ge Muse­um of Modern Art. Ein reich gebo­re­ner Ben­gel mit Täto­wie­run­gen am Arm hat­te es sich damals bau­en las­sen. Drin­nen sehe ich mir die Aus­stel­lung an. Neben der Kunst ist es aber haupt­säch­lich das Per­so­nal, das mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich zieht. Ein paar Stun­den lang spie­le ich ein Spiel: Den Mit­ar­bei­tern nahe­kom­men und zuschau­en, wie sie – pan­de­mie­be­dingt – den Abstand wah­ren. Ein Blick auf die Uhr mahnt mich jedoch zum Auf­bruch. Wir win­ken uns alle noch mal zu und sind glück­lich, den Nach­mit­tag mit­ein­an­der ver­bracht zu haben.

Zurück bei Nata­scha und Vlad stär­ken wir uns erst­mal mit diver­sen Köst­lich­kei­ten. Denn heu­te Nacht wer­den wir viel durch die Stadt strei­fen. Nata­scha hat aller­lei Künst­ler zusam­men­ge­trom­melt, die ihre Wer­ke in den Stra­ßen und Schau­fen­stern prä­sen­tie­ren: So reg­net uns etwa eine Gewit­ter­ma­schi­ne nass oder wir las­sen uns von hyp­no­ti­schen Ani­ma­ti­ons­fil­men gefan­gen neh­men. Die Kunst im Schau­fen­ster eines Pfand­hau­ses über­se­hen wir fast, so gut ist sie ins Gefü­ge der ande­ren Aus­la­gen inte­griert. All das stimmt mich nach­denk­lich. Was ist Kunst? Wer bin ich? Vlad klopft mir auf die Schul­ter und reißt mich aus mei­ner Grü­be­lei.

Jetzt muss ich aber drin­gend ins Bett, mor­gen soll die Rei­se doch schon wei­ter gehen! Aber bevor ich ein­schla­fe, kon­trol­lie­re ich noch ein­mal die Gepäck­ta­sche. Zu mei­nem Erstau­nen fin­de ich dort eine Schwarz­wäl­der Kirsch­tor­te. Die haben wohl Vlad und Nata­scha dort heim­lich depo­niert. Gut gemeint! Doch lei­der muss ich auf jedes Gramm Gewicht ach­ten und so ver­stecke ich die Tor­te im Rei­se­ge­päck der bei­den, denn sie wol­len am näch­sten Tag eben­falls abrei­sen.

Sechster Tag

Die Nacht war denk­bar kurz, beim Blick in den Spie­gel erschrecke ich etwas. Wer ist die­se Kat­ze mit Par­ty­hüt­chen? Ach nein, das ist gar nicht der Spie­gel. Ein her­vor­ra­gen­der Kaf­fee bringt mei­ne aus­ge­präg­ten ana­ly­ti­schen Fähig­kei­ten wie­der auf Trab. Für die heu­ti­ge Fahrt habe ich mir etwas Luf­tig-Leich­tes zum Anzie­hen aus­ge­sucht. Die Wet­ter­vor­her­sa­ge pro­gno­sti­ziert schweiß­trei­ben­de Tem­pe­ra­tu­ren. Mein Ziel ist Dort­mund, das Mek­ka der Trink­hal­len und schnur­ren­den Zechen­rä­der. End­lich wie­der im Sat­tel!

In Beckum ver­brin­ge ich mei­ne Mit­tags­pau­se in einem Restau­rant, das mit »La Cuci­na Ita­lia­na« wirbt. Ich bestel­le die Pfif­fer­lin­ge an Oran­ge, ein typisch ita­lie­ni­sches Essen, wie mir ver­si­chert wird. Kei­ne zwei Minu­ten spä­ter ser­viert der Chef­koch per­sön­lich, der gleich­zei­tig auch Inha­ber des Eta­blis­se­ments ist. Wahr­schein­lich ist mir mein Ruf als Restau­rant­kri­ti­ker bereits vor­aus­ge­eilt, denn er baut sich stren­gen Blickes neben mei­nem Tisch auf. Ich pro­bie­re – und kol­la­bie­re, aber nur inner­lich. Nach außen schützt mich wie­der mei­ne Son­nen­bril­le vor all­zu aus­sa­ge­kräf­ti­gen Gesichts­ent­glei­sun­gen. Mein pflicht­be­wuss­tes Lächeln scheint zufrie­den­zu­stel­len. Ich neh­me die Visi­ten­kar­te des Kochs ent­ge­gen, war­te auf sei­nen Abgang, wer­fe Bar­geld auf den Tisch und ver­schwin­de so schnell wie mög­lich. Spä­ter wer­de ich die Pfif­fer­lin­ge, die ich in mei­nen Backen gespei­chert hat­te, dem hie­si­gen Gesund­heits­amt in einem anony­men Umschlag über­ge­ben.

Als ich den Hamm-Dat­teln-Kanal ent­lang­fah­re, wer­den die Tem­pe­ra­tu­ren immer uner­träg­li­cher. Oft sprin­ge ich kurz vor Über­hit­zung direkt vom Fahr­rad ins Was­ser, prak­ti­scher­wei­se ist die Uelz­e­ner Unter­ho­se schnell­trock­nend. Ich muss mich jetzt regel­mä­ßig mit Son­nen­creme ein­schmie­ren, was für lüster­ne Blicke bei Pas­san­tin­nen und Pas­san­ten sorgt. Auch an die­se Unan­nehm­lich­keit wer­de ich mich in Zukunft gewöh­nen müs­sen.

Abends fah­re ich in Dort­mund ein. Kurz nach dem Orts­schild zieht eine Bra­che mit Graf­fi­ti, Müll und Gestrüpp an mir vor­bei. Auf einer Park­bank sitzt ein Paar: Er, die Hand auf ihrem Bein, schaut ver­liebt; sie, trau­rig und irri­tiert, wen­det den Blick zur Sei­te. Die Sze­ne hät­te ich ger­ne gemalt, aller­dings ist die Staf­fe­lei ganz unten in der Tasche, und ich bin zu faul, alles aus­zu­packen. Statt­des­sen fah­re ich schnur­stracks zu mei­ner Pen­si­on am Dort­mun­der Phoe­nix­see. Am heu­ti­gen Sonn­tag­abend ist das Ufer des etwa 23 Zen­ti­me­ter tie­fen Sees gefüllt mit Men­schen, die zumeist am Roll­ra­sen lie­gend in ihre Leucht­käst­chen star­ren. Zwi­schen­drin Grup­pen von Enten und Schwä­nen, die Kar­tof­fel­chips essen. Eine äußerst unwirk­li­che Gegend, die ich am näch­sten Tag ger­ne wie­der ver­las­se.

Siebter Tag

Nach einem lieb­lo­sen Früh­stück mit Bei­fuß-Tee begin­ne ich die heu­ti­ge Etap­pe mit schlech­ter Lau­ne. Die­se hält bis kurz vor Wit­ten an und wan­delt sich dann in rasen­de Wut, denn der Schlauch des Hin­ter­ra­des hat ein Loch. Mit rotem Kopf kra­me ich nach Werk­zeug und schon spa­zie­ren die ersten Gaf­fer an mir vor­bei. Die belu­stig­ten Blicke wan­dern vom erschlaff­ten Schlauch zu mir und wie­der zum Schlauch und wie­der zu mir und dann bekommt jeder eine Back­pfei­fe, die sich gewa­schen hat. Auf­grund mei­ner aus­ge­zeich­ne­ten mecha­ni­schen Fähig­kei­ten ist die Pan­ne aber bald beho­ben und es kann wei­ter­ge­hen. Die Wut wird wie­der zu schlech­ter Lau­ne, die ihrer­seits einen vor­läu­fi­gen Höhe­punkt in Sprock­hö­vel erreicht, wo ich eine Bei­fuß-Limo­na­de zum Mit­tag trin­ke.

Nun geht es hin­un­ter nach Wup­per­tal und lang­sam wer­de ich wie­der ver­söhn­lich. Der Rad­weg ist ein Gedicht, gut aus­ge­baut, liegt er auf dem ehe­ma­li­gen Gleis­bett einer Bahn­li­nie und führt durch die dazu­ge­hö­ri­gen Tun­nel. Die 40 Grad Außen­tem­pe­ra­tur wech­seln sich ab mit den –10 Grad Tun­nel­tem­pe­ra­tur: äußerst erfri­schend. Selbst­ver­ständ­lich behal­te ich die Son­nen­bril­le bei den Tun­nel­durch­que­run­gen auf, ein wenig Aben­teu­er soll schon sein. In Wup­per­tal, dem San Fran­cis­co des Ber­gi­schen Lan­des, hal­te ich an einer Ampel und wer­de kurz­zei­tig in die frü­hen 1960er Jah­re ver­setzt: Neben mir kommt ein Opel Kapi­tän zum Ste­hen, dar­in sit­zen zwei ita­lie­nisch spre­chen­de Män­ner in kurz­är­me­li­gen Hem­den und per­fekt geform­ten Haar­tol­len, die etwas mit­lei­dig auf mein Gefährt blicken.

Dann springt die Ampel auf Grün und ich fah­re an einem Schild vor­bei, das den 1.007 Kilo­me­ter lan­gen Weg nach Saint Éti­en­ne aus­weist. Kurz­zei­tig hal­te ich einen Abste­cher nach Frank­reich für eine gute Idee, ent­schei­de mich aber dann, doch nach Mett­mann zu fah­ren, zur Fami­lie. Mei­ne Schwe­ster Zoé, mein Schwa­ger Mau­rice und mei­ne bei­den Nich­ten Loui­se und Her­mi­ne war­ten schon sehn­lichst auf mei­ne Ankunft. Als ich die Allee zum Anwe­sen her­auf­fah­re, sehe ich sie schon von Wei­tem win­kend auf der Vor­trep­pe. Das Per­so­nal hat bereits den Gar­ten mit fest­li­chen Lich­tern geschmückt und hier ver­brin­gen wir auch den Rest des Tages; Geschich­ten erzäh­lend, Ton­tau­ben­schie­ßend und aus­ge­las­sen an die­sem hei­ßen Spät­som­mer­abend des Jah­res 2020.

Achter Tag

Der Tag beginnt ent­spannt. Heu­te mor­gen ist die Fami­lie aus­ge­flo­gen; zum Pri­vat­un­ter­richt, zur Vor­stands­sit­zung und zur wöchent­li­chen Bespre­chung mit dem Gärt­ner­team. Ich bin allei­ne und schwim­me ein paar Run­den im azur­blau­en Pool, trin­ke einen hand­ge­press­ten Kum­quat-Saft und lese die Finan­cial Times. Nach einer Klang­scha­len­mas­sa­ge füh­le ich mich bereit für den Tag. Heu­te mache ich einen Aus­flug zum hie­si­gen Muse­um of Anthro­po­lo­gy. Auf­grund der mör­de­ri­schen Hit­ze fah­re ich sehr lang­sam und brau­che für die vier Kilo­me­ter eine hal­be Ewig­keit. Doch schon allein das schö­ne Tal, in dem das Muse­um liegt, ent­schä­digt für die stra­pa­ziö­se Anfahrt. Heu­te habe ich den ein­zi­gen beruf­li­chen Ter­min mei­ner Rei­se. Zusam­men mit mei­nen Freun­den Car­men und Gui­sep­pe habe ich daheim einen Inter­net-Radio­sen­der gegrün­det; ein noch recht unbe­kann­tes Medi­um, dem aber enor­me Wachs­tums­ra­ten zuge­schrie­ben wer­den. Im Muse­um recher­chie­re ich für ein geplan­tes Fea­ture im Kul­tur­teil des Sen­de­pro­gramms.

Beson­ders die lebens­gro­ßen Figu­ren der Früh­men­schen haben es mir ange­tan. Jeder Pickel und jedes Här­chen sind zu sehen. Kör­per­ge­rü­che feh­len aller­dings, was ich ober­kri­tisch in mei­nem Notiz­büch­lein fest­hal­te. An jeder Figur gibt es auch eine Hör­sta­ti­on. Hier erzählt zumeist der dar­ge­stell­te Mensch über sich und sein Schick­sal. An der letz­ten Figur kann ich die Hör­sta­ti­on jedoch nicht fin­den und bemer­ke zu spät, dass es sich um einen schla­fen­den Muse­ums­mit­ar­bei­ter han­delt. Pein­lich! Mit mei­nem Ton­band­ge­rät sam­me­le ich noch ein paar weni­ge Hin­ter­grund­ge­räu­sche für die geplan­te Sen­dung. Den Rest soll die Geräu­sche­ma­che­rin über­neh­men, ich habe kei­ne Zeit mehr für wei­te­re Auf­nah­men, denn ich muss nun zum Abend­emp­fang.

Als ich zurück­keh­re, par­ken bereits die ersten Limou­si­nen mit bun­ten Fahr­zeug­stan­dar­ten auf dem Rasen. Im Vor­bei­fah­ren erken­ne ich die Hoheits­zei­chen von Samoa, Palau und Vanua­tu. Schnell schlüp­fe ich in mei­nen wei­ßen Anzug und klem­me mir das Mon­okel ans Auge. Als ich die Ter­ras­se betre­te, ist der Emp­fang bereits in vol­lem Gang. Mei­ne Schwe­ster Zoé, die heu­te Abend ein Kleid aus senf­gel­bem Crê­pe-Maro­cain trägt, wirft mir – wegen mei­ner Ver­spä­tung – einen gespielt stren­gen Blick zu. Ich ange­le mir ein Glas Pimm’s No 1 vom Tablet eines umher­ra­sen­den Kell­ners und schlen­de­re hin­un­ter in den Gar­ten. Auf einer Büh­ne bie­ten Her­mi­ne und Loui­se gera­de ihre Kla­vier­in­ter­pre­ta­ti­on von »Sum­mer­ti­me« dar. Ich gesel­le mich zu Mau­rice und dem deut­schen Gene­ral­kon­sul, die gera­de die Welt­la­ge bespre­chen. Der Tag und die anstren­gen­de Arbeit im Muse­um haben mich aller­dings schon sehr müde gemacht. Mor­gen will ich wei­ter­fah­ren. So wie es die Eti­ket­te erlaubt, zie­he ich mich daher zurück und schla­fe auf einer Lie­ge am Boots­steg ein.

Neunter Tag

Früh­mor­gens rei­se ich ab. Ich freue mich unbän­dig aufs Fah­ren, bin gleich­zei­tig aber auch tief­trau­rig wegen des Abschieds. Mit mei­nem gro­ßen karier­ten Stoff­ta­schen­tuch wische ich mir die Trä­nen von den Wan­gen. Doch es kul­lern immer wie­der neue nach. Dann bemer­ke ich, dass es gar kei­ne Trä­nen sind, son­dern Schweiß­per­len. Die Tem­pe­ra­tu­ren lie­gen heu­te mor­gen bereits bei 38 Grad im Schat­ten. Daher beschlie­ße ich die gest­ri­ge Stra­te­gie bei­zu­be­hal­ten und die etwa 60 Kilo­me­ter nach Köln in Schritt­ge­schwin­dig­keit zu absol­vie­ren. Denn nichts ist mir ver­hass­ter als Schwit­zen.

Schon bald kommt der Rhein in Sicht. Dabei wird mir warm ums Herz, denn nun habe ich tat­säch­lich den west­lich­sten Punkt mei­ner Rei­se erreicht. Wäh­rend einer Pau­se neh­me ich den Glo­bus zur Hand und zeich­ne dar­auf eine gera­de Linie von mei­nem Stand­punkt aus Rich­tung Westen ein­mal rund­her­um. Mir gefällt der Gedan­ke, auf die­ser Linie wei­ter­zu­fah­ren, die Über­que­rung der Ozea­ne ein­mal außen vor­ge­las­sen: Durch Bel­gi­en und Eng­land wür­de ich fah­ren, durch Kana­da, über die rus­si­sche Insel Sacha­lin, dann wür­de ich Chi­na strei­fen und auch die Mon­go­lei, Kasach­stan wür­de ich durch­que­ren, noch mal ein klei­nes Stück­chen Russ­land und dann durch die Ukrai­ne und Polen zurück an den Rhein.

Mit einer Fäh­re setz­te ich über auf die »gute«, die links­rhei­ni­sche Sei­te und stat­te dem Städt­chen Zons einen kur­zen Besuch ab. Sei­ne Mit­tel­al­ter­lich­keit zieht beson­ders älte­re Men­schen in sei­nen Bann und so fin­de ich Bus­la­dun­gen von Rent­nern vor, die sich zumeist dem Ver­spei­sen von Zucker­ge­bäck wid­men. Ich fah­re fluss­auf­wärts. Um die Mit­tags­zeit hal­te ich an einem Strand, den ich für eine län­ge­re Sie­sta aus­er­ko­ren habe, denn die Tem­pe­ra­tur ist wirk­lich mör­de­risch. In der Kühl­box fin­de ich die Eis­zap­fen aus Hitz­acker, die mir etwas Lin­de­rung ver­schaf­fen. Mit dem Fern­glas beob­ach­te ich, wie eine ein­bei­ni­ge Frau am Rhein Was­ser­ski fährt.

Dar­über muss ich wohl ein­ge­schla­fen sein, denn ich wache – braun gebrannt – erst am frü­hen Abend auf. Jetzt muss es etwas schnel­ler gehen, denn ich bin mit mei­ner Freun­din Yoko ver­ab­re­det. Tech­no-Kopf­hö­rer auf, und schon bin ich in einer hal­ben Stun­de in Köln. Ich kom­me wohl­be­hal­ten bei ihr an und bald dar­auf stür­zen wir uns für ein paar Stun­den ins Köl­ner Nacht­le­ben. Am Brüs­se­ler Platz, der von einer Gang Mer­ce­des fah­ren­der Pol­lun­der­trä­ger bewacht wird, neh­men wir einen Absacker. Jetzt ist es aber aller höch­ste Zeit für die Bett­ru­he, denn mor­gen steht das gefürch­te­te Hoch­ge­bir­ge am Fahr­plan. Auf Yokos gemüt­li­chem Sofa lie­gend wiegt mich die sanft pul­sie­ren­de Neon­re­kla­me der gegen­über­lie­gen­den Tank­stel­le in den Schlaf.

Zehnter Tag

Mor­gens beglei­te ich Yoko zur Arbeit und fah­re anschlie­ßend quer durch die Stadt und durch das Film­set des Köl­ner »Tat­ort«. Dort ver­su­che ich, Tipps für span­nen­de Kame­ra­ein­stel­lun­gen zu geben, was aber nur zu Kopf­schüt­teln bei den Kom­mis­sa­ren Bal­lauf und Schenk führt. Das muss ich mir nicht bie­ten las­sen, stecke den Belich­tungs­mes­ser wie­der ein und fah­re lie­ber wei­ter, denn heu­te liegt die wohl schwie­rig­ste Etap­pe vor mir: Ab jetzt wie­der nach Osten, 100 Kilo­me­ter durchs Hoch­ge­bir­ge, von Köln ins Sie­ger­land. Aus der Rhein­ebe­ne kom­mend, sehe ich schon von Wei­tem die schnee­be­deck­ten Gip­fel. Eigent­lich hat­te ich auf Rücken­wind gehofft. Doch heu­te wech­selt die Wind­rich­tung zum ersten Mal auf mei­ner Rei­se, sodass mir erneut der Gegen­wind ins Gesicht bläst. »Schön, dass sich man­ches nicht ändert!«, den­ke ich, als ich nach Rös­rath hin­auf­fah­re. Ich ste­he gut im Saft und absol­vie­re die ersten Päs­se.

Nach­mit­tags wird mir etwas schumm­rig und ich pau­sie­re in Wald­bröl. Hier bestel­le ich in einem tra­di­tio­nell-tür­ki­schen Lokal einen Kebab, um wie­der zu Kräf­ten zu kom­men. Als die Kell­ne­rin mir dar­auf­hin einen Gyros-Tel­ler ser­viert, deu­tet sie mei­nen fra­gen­den Gesichts­aus­druck rich­tig. Sie zeigt auf das Lokal­schild: »Myko­nos Grill« lese ich. Dane­ben eine flat­tern­de grie­chi­sche Fah­ne. Im Radio, das der Koch jetzt lau­ter stellt, läuft Nana Mouskou­ri. Die erzürn­ten Blicke der Ange­stell­ten lasten schwer auf mir. Ich ver­drücke das Gyros so schnell es geht und flüch­te.

Jetzt kom­me ich nur lang­sam vor­an, kein Wun­der bei durch­schnitt­lich 20 Pro­zent Stei­gung. Ein­mal bie­ge ich ab und fah­re etwa fünf­zehn Kilo­me­ter in die fal­sche Rich­tung, bevor ich mei­nen Feh­ler bemer­ke. Ich könn­te ent­we­der den gan­zen Weg zurück­fah­ren oder durch ein Hoch­moor abkür­zen. Ich ent­schei­de mich für die Abkür­zung, schul­te­re das Rad und wate eine hal­be Ewig­keit durch den Morast. Danach muss ich ohne Schu­he wei­ter­fah­ren. All das zehrt an den Kräf­ten.

Schließ­lich errei­che ich am spä­ten Abend abge­kämpft, aber glück­lich das Sie­ger­land, die alte Hei­mat. Hier möch­te ich für ein paar Tage pau­sie­ren und mei­ne Eltern Wolf­gang und Bar­ba­ra besu­chen. Sie woh­nen in einer klei­nen Block­hüt­te am Wald­rand. Als ich ankom­me, hat Wolf­gang bereits das Lager­feu­er ent­facht. Dar­über brät Bar­ba­ra Sie­ger­län­der Rei­be­ku­chen, eine Spe­zia­li­tät der Regi­on. Nach dem lecke­ren Essen macht sich die Müdig­keit bemerk­bar. Ich lege mich ins Bett. Die Bett­wä­sche ist so dick, dass ich nicht über sie hin­weg­gucken kann.

Elfter bis dreizehnter Tag

In den näch­sten Tagen gibt es viel zu tun. Neue Zäu­ne müs­sen gebaut, alte aus­ge­bes­sert wer­den. Das Wind­rad, dass die Was­ser­pum­pe antreibt, braucht eben­falls eine Gene­ral­über­ho­lung. Außer­dem errich­ten wir meh­re­re Tele­gra­fen-Masten, die das sekun­den­schnel­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­um end­lich auch in die­se abge­schie­de­ne Regi­on brin­gen wer­den. Abends sit­zen wir um das Feu­er her­um und blät­tern in alten Foto­al­ben. Die Ver­gan­gen­heit scheint hier und da auf – als ich eines schö­nen Tages über den Dach­bo­den krie­che, fin­de ich eine alte Kiste, dar­in Sachen aus mei­ner Jugend: Ein von Bar­ba­ra geschnitz­tes Pferd­chen aus Zedern­holz, mein Auf­kle­ber-Album der Fuß­ball­welt­mei­ster­schaft 1986, eine Stan­ge Dyna­mit, eine rote Clowns­na­se zum Auf­stecken und ein schma­les, in Leder gebun­de­nes Notiz­buch. Die mei­sten Sei­ten sind noch unbe­schrie­ben, ein­zig in der Buch­mit­te fin­de ich fol­gen­de Zei­len:

mei­ne klei­ne schreib­ma­schei­ne

eines abends
um halb acht
statt zu gra­ben
tot­ge­lacht

wolf und tau­be
ton und stein
fie­len ins geläch­ter ein

rau­schend, wie die din­ger waren
gebeugt von mas­sen klei­ner zel­len
mit all dem schat­ti­gen geba­ren
klangs her­um wie mee­res wel­len

in dem schacht lag sie denn sacht
auf eim bün­del zel­lu­loid
was ich noch dazu­ge­streut

mei­ne klei­ne schreib­ma­schei­ne
das ist dei­ne letz­te ruh
lie­ber hat ich wirk­lich kei­ne
du igno­ran­te blö­de kuh

Die Rei­se­pau­se bei mei­nen Eltern nut­ze ich auch, um Vor­rä­te auf­zu­fül­len, Klei­dung aus­zu­bes­sern und das Rad einer gründ­li­chen War­tung zu unter­zie­hen. So baue ich mein Gefährt kom­plett aus­ein­an­der und fet­te jedes Ein­zel­teil so lan­ge, bis es mir aus den Hän­den flutscht. Nach dem Zusam­men­bau blei­ben fünf Schrau­ben und ein Zahn­kranz übrig, die ich gewis­sen­haft im Rest­müll ent­sor­ge – beim The­ma Müll­tren­nung ken­ne ich kei­nen Spaß.

Auch sehe ich alte Freun­din­nen und Freun­de wie­der. Mit Amal und Balu gril­le ich einen Och­sen, mit Klaus, Tan­ja und den Vier­lin­gen ver­brin­ge ich einen Nach­mit­tag am Spiel­platz. Trotz der Rei­se­pau­se fah­re ich jeden Tag mit dem Rad die Ber­ge des Sie­ger­lan­des hin­auf und hin­un­ter, ein­fach nur, um mich fit zu hal­ten und die Gedan­ken zu sor­tie­ren. Doch schon bald beginnt das Rei­se­vi­rus wie­der zu jucken, mein Gehirn ist auf Ent­zug – auf Ent­zug vom war­men Asphalt und vom Fahrt­wind. Also kün­di­ge ich mei­ne bal­di­ge Abrei­se an. Am Abend kom­men die Ein­hei­mi­schen zum Haus mei­ner Eltern, brin­gen Trut­häh­ne, Süß­kar­tof­feln und Kür­bis­ku­chen. Wie bei­läu­fig wird dar­aus ein Abschieds­fest zu mei­nen Ehren. Zusam­men sit­zen wir an einer reich gedeck­ten Tafel am Wald­rand. Die wei­ße Tisch­decke flat­tert im Wind. Wir ver­spei­sen die Köst­lich­kei­ten, die der kar­ge Boden der Regi­on von sich gege­ben hat. Die spä­ter ent­fach­ten Feu­er schüt­zen uns vor der Käl­te der Nacht und las­sen uns näher zusam­men­rücken.

Vierzehnter Tag

In aller Frü­he hän­ge ich das Gepäck ans Rad, ver­ab­schie­de mich und bin wie­der auf der Stra­ße. Heu­te ist Mar­burg das Ziel und Klaus beglei­tet mich ein paar Kilo­me­ter. Wir tref­fen uns am Bahn­hof und radeln los bis zu der Stel­le mei­ner Rei­se mit der größ­ten Stei­gung, einer senk­recht auf­ra­gen­den Fels­wand. Hier müs­sen wir klet­tern und die Räder per Fla­schen­zug hin­auf­zie­hen. Beim Klet­tern rut­sche ich jedoch ab und kann mich gera­de noch so – ein­hän­dig – an einem Vor­sprung fest­hal­ten. Ich bau­me­le hin und her und grin­se Klaus ver­le­gen an, der etwas besorgt auf mich hin­un­ter­blickt. Oben ange­kom­men genie­ßen wir die fan­ta­sti­sche Aus­sicht und machen uns wie­der auf den Weg. Gro­ße Wald­ge­bie­te lie­gen vor uns, die wir auf einer schma­len schnur­gra­den Stra­ße durch­que­ren, bis zur Quel­le der Sieg. Hier machen wir Rast, kochen und essen, hören etwas Dark Jazz und plau­dern mit ande­ren Rad­rei­sen­den. Danach ver­ab­schie­den wir uns und Klaus ver­schwin­det mit sei­nem Moun­tain­bike im Unter­holz.

Wei­ter geht es, immer tie­fer in den Wald hin­ein. Die Aus­wir­kun­gen der Kli­ma­kri­se sind hier mehr als offen­sicht­lich: Tote Bäu­me soweit das Auge reicht. Oft­mals fah­re ich über eine dau­men­dicke Schicht von Tan­nen­na­deln. Ich bekom­me eine kurz­zei­ti­ge Depres­si­on. Aus die­ser wer­de ich jäh her­aus­ge­ris­sen, als mich am Lahn-Rad­weg ein Ein­hei­mi­scher mit E‑Bike und Gold­ket­te anspricht. Der Rad­weg wür­de dort vor­ne enden wegen einer Bau­stel­le. Er kön­ne mir zei­gen, wo es wei­ter­ge­he. Bevor ich etwas ent­geg­nen kann, macht er sich zu mei­nem Gui­de und weicht mir nicht mehr von der Sei­te. Nach etwa zwan­zig Minu­ten bin ich sei­ner halb­her­zi­gen Geschich­ten über­drüs­sig, schreie »Schau­en Sie! Hin­ter Ihnen, ein drei­köp­fi­ger Affe!« und tre­te in die Peda­le. Trotz Elek­tro­an­trieb wird er mich nicht mehr ein­ho­len kön­nen, von Wei­tem höre ich ihn empört irgend­et­was rufen.

Abends errei­che ich wohl­be­hal­ten Mar­burg, wo ich mei­nen alten Freund Mild Bill Hick­up besu­chen möch­te. Zusam­men mit sei­ner Frau Boun­cing Bear wohnt er direkt am Fluß. Spä­ter machen wir es uns auf sei­nem klei­nen Anle­ger gemüt­lich und betrach­ten das stu­den­ti­sche Trei­ben um uns her­um. Bis spät in die Nacht hin­ein erör­tern wir Pla­tons Höh­len­gleich­nis. Als uns die kal­te Feuch­te des Flus­ses zit­tern lässt, tre­ten wir den Rück­zug an. Mor­gen wol­len wir ein paar Tage zusam­men wei­ter­fah­ren. Ich strei­fe mei­ne Toga ab und bege­be mich in Mild Bills High­tech-Bett, das er mir groß­zü­gig zur Ver­fü­gung gestellt hat. Hier schla­fe ich glück­lich ein.

Fünfzehnter Tag

Ich wache auf und betä­ti­ge die Fern­be­die­nung. Laut­los hebt die Matrat­ze Kopf und Bei­ne an, sodass ich äußerst bequem aus dem Fen­ster hin­aus die auf­ge­hen­de Son­ne betrach­ten kann. Mit einem wei­te­ren Knopf­druck fährt das Bett auto­ma­tisch aus dem Raum und kommt am Küchen­tisch zum Ste­hen, wo Bill bereits ein deli­ziö­ses Früh­stück zube­rei­tet hat. Gemein­sam beu­gen wir uns für ein paar Stun­den über Kar­ten­ma­te­ri­al, um die näch­sten Rei­se­ta­ge zu pla­nen. Nach­dem wir die Rou­te mit klei­nen Fähn­chen abge­steckt und die­se mit bun­ten Woll­fä­den ver­bun­den haben, packen wir die Kar­te ein und fah­ren los.

Das heu­ti­ge Tages­ziel ist der Eder­see, ein Stau­see inmit­ten einer pit­to­res­ken Wald­land­schaft. Bei sei­nem Bau sol­len meh­re­re Ort­schaf­ten über­flu­tet wor­den sein. Unter­wegs mer­ke ich, dass das Rei­sen zu zweit auch etwas für sich hat: Statt der Selbst­ge­sprä­che ent­wickeln sich anre­gen­de Dia­lo­ge, der Wind­schat­ten des ande­ren schont die eige­nen Kräf­te, selbst die wohl­ge­mein­ten Hand­zei­chen für rabia­te Auto­fah­rer tei­len wir uns brü­der­lich.

Am spä­ten Nach­mit­tag errei­chen wir den Eder­see, wo uns die Kli­ma­kri­se wie­der ein­holt: Der Was­ser­stand ist so nied­rig, dass nur noch ein schma­les Rinn­sal übrig ist. Trau­rig fah­ren wir den See ent­lang und hal­ten nach Über­nach­tungs­mög­lich­kei­ten Aus­schau. Schließ­lich fin­den wir eine Art Jugend­her­ber­ge mit Zelt­platz. Eine Grup­pe Teen­ager in Schul­klas­sen­stär­ke maro­diert auf der Vor­wie­se. Sonst sind kei­ne wei­te­ren Gäste zu sehen. Auf­grund der male­ri­schen Lage des Zelt­plat­zes ent­schei­den wir uns, hier die Nacht zu ver­brin­gen. Beim Her­bergs­va­ter kau­fen wir Fan­ta Oran­ge und Gum­mi­bär­chen. Dann wird uns das Geschrei der Jugend­li­chen zu viel. Bill, der auch Päd­ago­ge ist, bringt die Grup­pe mit einem dia­bo­li­schen Blick zum Schwei­gen. Nun­mehr beru­higt, unter­hal­ten wir uns ange­regt über die Mög­lich­kei­ten anti­au­to­ri­tä­rer Erzie­hung.

Am Abend geht Bill im kläg­li­chen Rest des Sees schwim­men. Von Wei­tem sehe ich sei­ne wei­ßen Pobacken im Abend­licht auf­blit­zen. Ich berei­te das Essen zu und ent­kor­ke den Cham­pa­gner. Dabei gesellt sich ein Rot­kehl­chen zu mir, das uns nun für eini­ge Tage beglei­ten wird. Zu dritt genie­ßen wir den Perl­wein und laben uns an Bills selbst gemach­tem Estra­gon-Pesto. Als die Ster­ne zu Fun­keln begin­nen, erzäh­le ich noch eine Gru­sel­ge­schich­te mit­hil­fe der Taschen­lam­pe. Mit woh­li­gem Schau­er krie­chen wir in unse­re Schlaf­säcke.

Sechzehnter Tag

Die Jugend­li­chen hat­ten Bills Warn­si­gnal intui­tiv ver­stan­den und blei­ben auch die ver­reg­ne­te Nacht hin­durch ruhig. Vor dem Früh­stück hän­gen wir unse­re Zel­te zum Trock­nen in die wär­men­de Son­ne. Heu­te geht es wei­ter Rich­tung Kas­sel, aber ein gutes Stück Eder­see liegt noch vor uns. Als wir am Ufer ent­lang­fah­ren, suchen wir die Was­ser­ober­flä­che kata­stro­phen­geil nach Über­bleib­seln der ein­sti­gen Dör­fer ab. Kurz vor der Stau­mau­er wird der See etwas brei­ter. Ein ein­sa­mer Aus­flugs­damp­fer kreuzt trau­rig auf der klei­nen Flä­che, die ihm noch geblie­ben ist. Das Rot­kehl­chen, das auf mei­ner Quer­stan­ge Platz genom­men hat, schaut skep­tisch in den Him­mel, wo ein Milan sei­ne Krei­se zieht. »Nur ruhig, klei­ner Vogel, ich beschüt­ze dich!« sage ich laut und recke mei­ne Faust hin­auf zum Greif.

Unter­halb der Stau­mau­er sto­ßen wir auf einen als US-ame­ri­ka­ni­sche Western­stadt getarn­ten Biker­treff. Leder­ne Gestal­ten beäu­gen uns feind­se­lig. Als ich mei­ne Hand osten­ta­tiv auf die Tube Ket­ten­öl lege, die ich am Gür­tel tra­ge, wan­delt sich die Abnei­gung schnell in gespiel­tes Des­in­ter­es­se. Wir besich­ti­gen unbe­hel­ligt den Saloon, das Hotel, den Pfer­de­stall, den Bestat­tungs­la­den und den Fried­hof. Danach löf­feln wir gebra­te­ne Boh­nen aus Email­le-Tel­lern. Bill schaut mich dabei ver­schmitzt mit sei­nen stahl­blau­en Augen an.

Der wei­te­re Rad­weg ent­lang der Eder ist weder schön noch häss­lich. Daher ver­trei­ben wir uns die Zeit mit aller­lei Kurz­weil: So pro­fi­tie­ren wir etwa von mei­nem fabel­haf­ten Wit­ze­ge­dächt­nis. Auch die zahl­rei­chen und schön anzu­se­hen­den Pol­ler, die auf unse­rem Weg lie­gen, erwecken unse­re Auf­merk­sam­keit. Als wir an einer Zucker­fa­brik vor­bei­ra­deln hal­te ich einen spon­ta­nen Vor­trag über die Kul­tur­ge­schich­te der Zucker­rü­be, der Bill sicht­lich bewegt. Spä­ter kom­men wir in Fritz­lar an, wo wir unse­re Vor­rä­te auf­zu­fül­len geden­ken. Da Bill und ich ziem­lich pin­ge­lig bei der Ernäh­rungs­fra­ge sind, dau­ert es eine hal­be Ewig­keit, bis wir wei­ter­fah­ren. Unter­wegs sam­melt Bill noch ein paar Kilo Fall­obst von der Wie­se des Bau­ern. Die Son­ne beginnt jetzt bereits unter­zu­ge­hen und so ver­las­sen wir den Weg ent­lang der Eder, fah­ren über eine Berg­kup­pe und sehen die Ful­da unten im Tal. In einer ihrer Schlei­fen schla­gen wir die Zel­te auf. Das Brum­men der nahen Auto­bahn A7 wiegt uns in den Schlaf. »Brumm­schlei­fe« den­ke ich, kurz bevor ich das Bewusst­sein ver­lie­re.

Siebzehnter Tag

Am näch­sten Mor­gen hat sich etwas ver­än­dert. Die Blät­ter der Bäu­me haben sich ver­färbt, das Rot­kehl­chen ist auf und davon, die Tem­pe­ra­tu­ren sind gefal­len, Son­ne und Regen wech­seln sich ab, aus einem fer­nen Tran­si­stor­ra­dio tönt »I’m not in love« der eng­li­schen Rock­band 10cc. Weh­mut steigt in mir auf. Die weni­gen Kilo­me­ter bis Kas­sel möch­te mich Bill noch beglei­ten. Dort wer­den sich unse­re Wege tren­nen, denn er hat wich­ti­ge Ver­pflich­tun­gen wahr­zu­neh­men. Wir stei­gen also auf die Räder und fah­ren los, unse­re bunt­ge­strick­ten Schals flat­tern im Fahrt­wind. Ein wun­der­ba­rer Rad­weg liegt an der Ful­da, den wir in aller Ruhe und Gemüt­lich­keit ent­lang­fah­ren – wir müs­sen uns nichts mehr bewei­sen. Gedank­lich gehe ich schon mal die ver­blei­ben­de Rou­te nach Hau­se durch. Drei Tage dürf­te mei­ne Rei­se wohl noch dau­ern. Im Kas­se­ler Staats­park neh­men wir ein ver­spä­te­tes Früh­stück ein. Ver­gnügt spre­chen wir dabei über die nahe­lie­gen­de Zukunft und unse­re Plä­ne.

Dann brin­ge ich Bill zum Bahn­hof. Am Bahn­gleis ver­ab­schie­den wir uns und ich win­ke sei­nem Zug noch lan­ge hin­ter­her. Als ich aus der Bahn­hofs­hal­le wie­der her­aus­tre­te, pas­siert es: Ich lau­fe mit vol­lem Elan gegen eine Stra­ßen­la­ter­ne. In kalei­do­sko­phaf­tem Far­ben­spiel beginnt sich alles zu dre­hen und plötz­lich läuft die Zeit rück­wärts. Ich sehe mich selbst durchs Gebir­ge fah­ren, spü­re den Sand am Ufer des Rheins, das vibrie­ren­de Trei­ben des Ruhr­ge­bie­tes, ich schmecke Son­nen­creme und rie­che den nie­der­säch­si­schen Wald, füh­le die Schmer­zen am Po ohne Rad­ler­ho­se und erle­be erneut das Fern­weh auf den lan­gen Bran­den­bur­ger Alleen. Als ich wie­der zu mir kom­me, schaue ich in die besorg­ten Gesich­ter eini­ger Bahn­kun­den, die ich jedoch schnell von mei­ner Gene­sung über­zeu­gen kann. Das zuletzt gefühl­te Fern­weh hat sich jetzt in unbe­schreib­li­ches Heim­weh gewan­delt.

Ich kau­fe kur­zer­hand ein Ticket erster Klas­se und ver­brin­ge die War­te­zeit in der Lounge, wo ich die Eis­wür­fel aus Drinks fische, um mei­ne Beu­le am Kopf zu küh­len. In der Stil­le des Zug­ab­teils, die nur vom lei­sen glä­ser­nen Klir­ren des Ser­vier­wa­gens unter­bro­chen wird, spre­che ich die hier vor­lie­gen­den Rei­se­be­schrei­bun­gen auf Band. Zuhau­se ange­kom­men, fah­re ich das kur­ze Stück vom Bahn­hof zur Woh­nung mit stolz geschwell­ter Brust. Dabei rufe ich immer wie­der »Seht her, lie­be Leu­te, ICH habe die Welt bereist!«, was zumeist mit aner­ken­nen­dem Augen­rol­len oder Auto­hub­en quit­tiert wird. Als ich zu Hau­se die Tür öff­ne, schnappt mich mei­ne Frau Tina, beugt mich fast hin­un­ter bis zum Boden und wir küs­sen uns wie beim ersten Mal – Tri­umph des Heim­keh­rens!


Zeich­nung: Iris Kühn­ber­ger