Leidfaden des Radreisens II

Es ist mal wie­der so weit. Tina und ich stei­gen auf die Räder und fah­ren los. Näch­ster Halt Haupt­bahn­hof. Hier tref­fen wir am Gleis auf einen Pulk älte­rer Herr­schaf­ten, die sich ner­vös mit ihren Sitz­platz­re­ser­vie­run­gen Luft zufä­cheln. Als der Zug zum Ste­hen kommt, brin­gen wir die Zwei­rä­der fach­ge­recht im dafür vor­ge­se­he­nen Wagon unter: mein feder­leich­tes Ultra-High­speed-Vehi­kel aus gehär­te­tem Papier sowie Tinas ton­nen­schwe­ren Trans­port­pan­zer aus purem, schwarz lackier­tem Gold. Lei­der sit­zen wir neben vier BWL-Stu­den­ten mit Bür­sten­haar­schnit­ten, die laut­hals ihre Kar­rie­ren pla­nen. Das ist äußerst ein­schlä­fernd, sodass ich den Rest der Fahrt schon mal von unse­rer Rei­se träu­me. Tina und ich sind näm­lich auf dem Weg nach Nor­we­gen, einem noch recht unbe­kann­ten Land weit im Nor­den. Dort möch­ten wir unse­re alte Freun­din Stef­fi besu­chen, die dort­hin aus­ge­wan­dert ist und ein äußerst kar­ges aber erfüll­tes Leben leben soll.

In Ham­burg klappt unse­re gebuch­te Ver­spä­tung wie am Schnür­chen. Beru­higt neh­men wir den näch­sten Zug, der uns nach Kiel bringt. An der Kaje liegt bereits unser Schiff, die Color Fan­ta­sy, ein in die Jah­re gekom­me­ner See­len­ver­käu­fer. Man winkt uns mit den Rädern an lan­gen Schlan­gen von Autos und Wohn­mo­bi­len vor­bei, die auf ihre Ein­schif­fung war­ten. Im Innern ent­puppt sich die Color Fan­ta­sy jedoch als wasch­ech­ter Luxus­li­ner mit allen Fines­sen: Kasi­no, Revue-Büh­ne, Ein­kaufs­pas­sa­ge, Hal­len­bad und Restau­rant. Die uns zuge­wie­se­ne Kajü­te ist ein klei­ner Über­nach­tungs­traum aus Sei­den­ta­pe­te, Pan­ora­ma­fen­ster und einem ech­ten Kan­din­sky. Schnell schlüp­fen wir in die Abend­gar­de­ro­be und stre­ben an Deck, wo wir das Aus­lau­fen genie­ßen. Ein Matro­sen­chor singt »La Palo­ma« in Dau­er­schlei­fe. Das Herz wird schwer. Hier oben haben wir auch das erste Mal die Gele­gen­heit, die ande­ren Pas­sa­gie­re in Augen­schein zu neh­men: alle­samt geschmack­voll geklei­de­te Men­schen mitt­le­ren Alters, mit höf­li­chen Umgangs­for­men und einem gewis­sen Under­state­ment.

Als die deut­sche Ost­see­kü­ste hin­ter dem Hori­zont ver­schwin­det, ist es Zeit für den Abend­emp­fang. Der Kapi­tän führt Tina und mich zum Tisch, erkun­digt sich nach unse­rem Wohl­be­fin­den und gibt unse­re Ape­ri­tif-Bestel­lung mit einem Fin­ger­schnip­sen an den näch­sten Kell­ner wei­ter. Das Buf­fet ist ganz vor­züg­lich, fri­sche Mee­res­früch­te und Fische, die der Schiffs­koch am Mor­gen zuvor aus dem Oze­an gean­gelt hat. Die Pia­ni­stin spielt »Stran­gers in the Night«. Tat­säch­lich ist die Son­ne bereits unter- und der Mond auf­ge­gan­gen, als wir erneut an Deck tre­ten. Nach­denk­lich schau­en wir über den Bug hin­weg auf die spie­gel­glat­te See: »Was kön­nen wir wis­sen? Was sol­len wir tun? Was dür­fen…«  – das Schiffs­horn und ein an Steu­er­bord vor­bei­zie­hen­der Eis­berg rei­ßen uns aus unse­ren Gedan­ken. Die dro­hen­de Hava­rie: abge­wen­det! Glück­lich, nicht ums Leben gekom­men zu sein, keh­ren wir in unse­re Unter­kunft zurück. Hier wickeln wir uns für den Rest der Nacht in die hand­ge­web­ten Bett­la­ken ein und schla­fen einen tie­fen, traum­lo­sen Schlaf.

Zweiter Tag

Als wir am Mor­gen erwa­chen, rei­ben wir uns müde die Augen und blicken aus dem Fen­ster: Die See ist bewegt und ein grü­nes Band zeich­net sich am Hori­zont ab – das muss Nor­we­gen sein! Frisch fri­siert stre­ben wir zum Früh­stücks­büf­fet. Hier schich­ten bereits dicke Her­ren volu­mi­nö­se Fleisch­la­dun­gen auf die Tel­ler. Etwas pikiert knab­bern Tina und ich an Scho­ko-Rie­geln. Der Oslo-Fjord, in den das Schiff nun ein­fährt, ist pit­to­resk. Am Aus­sichts­deck lau­fen die Foto­ap­pa­ra­te auf Hoch­tou­ren. Eine quä­ken­de Stim­me dringt aus dem Laut­spre­cher und kün­digt die bal­di­ge Ankunft an. Freu­dig schnü­ren wir unser Gepäck zusam­men. Im Bauch des Schif­fes bela­den wir die Räder und wer­den zusam­men mit einer Grup­pe Hells Angels an Land gelotst.

Hier müs­sen wir noch län­ge­re Zeit war­ten, denn die Zoll­ab­fer­ti­gung arbei­tet äußerst gewis­sen­haft. Als wir end­lich an der Rei­he sind, wer­den wir von ver­spie­gel­ten Bril­len­glä­sern ein­ge­hend gemu­stert. Ein Mund mit hun­dert schnee­wei­ßen Reiß­zäh­nen fragt nach dem Grund unse­rer Rei­se, ob wir etwas zu ver­zol­len hät­ten. Die zwan­zig Stan­gen Ziga­ret­ten, die wir Stef­fi mit­brin­gen, erwäh­nen wir nicht.

Dann geht es hin­ein nach Oslo. Nach der tage­lan­gen Bewe­gungs­ar­mut haben Tina und ich Lust auf eine Rad­wan­de­rung. Und so fah­ren wir gleich wie­der aus der Stadt hin­aus, hin­auf zum Mari­dals­van­net-See. Wäh­rend­des­sen bekom­men wir den schlimm­sten Hun­ger unse­res Lebens und müs­sen umkeh­ren. Gehetzt rasen wir hin­un­ter zum Hotel, bezie­hen die Unter­kunft und fra­gen den Con­cier­ge nach der nächst­ge­le­ge­nen Restau­ra­ti­on im Miche­lin-Ster­ne-Bereich. Jetzt muss es schnell gehen, denn aus Tinas Gesicht ist bereits alle Far­be gewi­chen. Die ita­lie­ni­sche Kell­ne­rin erkennt unse­re Not­la­ge sofort und tischt gro­ße Men­gen Mee­res­früch­te und Cham­pa­gner auf, die wir blitz­schnell hin­un­ter­stür­zen. Kraft und Denk­ver­mö­gen keh­ren all­mäh­lich wie­der zurück.

Am Abend schlen­dern wir durch die Stadt, bestau­nen die rei­chen Muse­en, ver­lie­ben uns in die kla­ren Lini­en des Rat­hau­ses, der Oper, zäh­len die Elek­tro­au­tos auf Oslos Stra­ßen und betrach­ten das schlich­te Schloss der Mon­ar­chen. Die zahl­rei­chen Skulp­tu­ren im Slotts­par­ken regen unse­re Fan­ta­sie an und so ver­brin­gen wir hier eini­ge Stun­den mit Zeich­nen und Foto­gra­fie­ren. Erst spät in der Nacht keh­ren wir ins Hotel zurück. Doch schla­fen kön­nen wir noch nicht, so anre­gend sind all die neu­en Ein­drücke. Erst als ich Tina aus dem Wirt­schafts­teil der Aften­po­sten vor­le­se, schlingt der Schlaf sei­ne sam­te­nen Arme um uns.

Dritter Tag

Ich wache früh auf und hole zwei Becher Kaf­fee aus dem Auto­ma­ten in der Lob­by. Als ich wie­der ins Zim­mer kom­me, ist Tina bereits mun­ter und legt eine Kas­set­te in die Video­ka­me­ra ein, denn: Heu­te blei­ben wir noch in Oslo und las­sen uns erneut von der Stadt ver­zau­bern. Genüss­lich schlür­fen wir das Kof­fe­in in uns rein und ver­las­sen das Hotel über den Neben­ein­gang.

Unser erstes Ren­dez­vous haben wir mit den Wer­ken von Nor­we­gens Natio­nal­hei­li­gem Edvard Munch. Die Stadt hat ihm zu Ehren ein bru­ta­les Muse­um gebaut. Dar­in erwar­tet uns eine Heer­schar gut bezahl­ter Student*innen, die uns den Weg zum Ticket-Schal­ter und in die Aus­stel­lungs­räu­me weist. In einem unbe­ob­ach­te­ten Moment zieht Tina ihre Roll­schu­he an und ich fil­me sie dabei, wie sie vor dem Schrei, dem Vam­pir, der Madon­na und der Angst ihre Pirou­et­ten dreht. Jah­re spä­ter wird sie mir einen Aus­schnitt aus einem ame­ri­ka­ni­schen Film zei­gen, in dem der Haut­dar­stel­ler auf Roll­schu­hen durch das Coun­ty Muse­um of Art in Los Ange­les tanzt. Scham­los, wie Hol­ly­wood unse­re Ideen klaut!

Als wir aus dem Muse­um tre­ten ist es bereits spä­ter Nach­mit­tag und wir müs­sen uns noch um den mor­gi­gen Rei­se­pro­vi­ant küm­mern. Kurz ent­schlos­sen fah­ren wir daher zur Mart­hal­len und kau­fen eine gro­ße Wurst aus Ente. Prak­ti­scher­wei­se bie­tet die in der Nähe gele­ge­ne Gale­rie viel­ver­spre­chen­de Wer­ke jun­ger Oslo­er Maler*innen an. Auch hier bela­sten wir die Ame­ri­can Express Black und bespre­chen noch kurz die For­ma­li­tä­ten des Kunst­trans­ports. Die Gale­ri­stin winkt uns wei­nend zum Abschied mit einem Taschen­tuch. Nach einer kur­zen Ver­schnauf­pau­se am Fluß, wo wir wie gebannt auf einen als Schwan getarn­ten Penis star­ren, machen wir uns auf den Weg hin­auf zum Eke­berg­par­ken. Hier wol­len wir den Tag beschlie­ßen.

Beim Fla­nie­ren durch den Park­wald bewun­dern wir die oft­mals ver­stö­ren­den Skulp­tu­ren. Danach sind wir etwas erschöpft und las­sen uns auf der Ter­ras­se des Eke­berg­re­stau­rant­en nie­der. Dort beu­gen sich gut betuch­te Oslo­er Bürger*innen über Tel­ler mit damp­fen­den Muscheln. Tina und ich bestel­len Bier und haben bald einen sit­zen. Des­we­gen macht die Fahrt vom Berg hin­un­ter gleich dop­pelt so viel Spaß. Bei cir­ca 70 km/h steigt Tina auf die Mit­tel­stan­ge, erhebt sich zu vol­ler Grö­ße und fährt frei­hän­dig wei­ter. Ich pfei­fe ihr aner­ken­nungs­voll hin­ter­her. Lei­der habe ich die Video­ka­me­ra nicht zur Hand, ich hät­te es ger­ne gefilmt. Vor­bei geht es am nie­gel­na­gel­neu­en Nas­jo­nal­mu­seet, das just in dem Moment sei­ne Eröff­nung fei­ert. Hier möch­te ich dem Stats­mi­ni­ster noch kurz mei­ne Auf­war­tung machen. Tina ist aller­dings schon müde und hat bereits ihren Schlaf­an­zug ange­zo­gen, sodass wir uns ohne Ver­zö­ge­rung zum Hotel bege­ben. Mor­gen geht end­lich die Rei­se los.

[Fortsetzung folgt]