Berliner Industriekultur

Ich besitze eine kleine industriekulturelle Brillensammlung. Die erste Brille fand ihren Weg zu mir, als ich nach Berlin zog, direkt neben die Rathenau-Hallen in Oberschöneweide. Mit ihrer Hilfe begann ich, die Stadt mit anderen Augen zu sehen. Mir wurde auf einmal die Existenz der vielen Bauten aus roten oder ockerfarbenen Ziegeln bewusst, die sich über das Stadtgebiet verteilen.

Mit der zweiten Brille begann ich, den ästhetischen Wert dieser Gebäude zu schätzen – nicht nur, aber auch als Lost Places. Das fing an, als ich mit fotografischen Absichten über den Zaun des damals abgesperrten Friedrichshainer RAW-Geländes kletterte – um direkt von grimmigen Zollbeamten des Geländes verwiesen zu werden.

Eine dritte Brille erschloss mir die hedonistische Seite der Berliner Industriekultur. Im Maria am Ostbahnhof, einem Club im ehemaligen Postbahnhof, schlug ich mir tanzend die Nächte um die Ohren.

Die vierte Brille kam hinzu, als ich merkte, dass Berlins alte Industriepaläste nicht nur zum Tanzen und Fotografieren gut waren. Sondern, dass man darin auch arbeiten konnte. So verbrachte ich so manche Schicht monotoner digitaler Tätigkeit in einem Schöneberger Fabrikgebäude. Dort hatte die Firma Mix & Genest ihrerzeit Telefone, Telegrafen und Rohrpostanlagen hergestellt.

Die fünfte und bisher letzte Brille meiner Sammlung erwarb ich im Deutschen Technikmuseum. Sie zeigt mir Berlins industrielle Bauten und die Menschen dahinter in ihren geschichtlichen Bezügen.

Die Sehstärke dieser Brille habe ich jetzt etwas verbessert. Die noch junge Schriftenreihe des Berliner Zentrum Industriekultur (bzi) hat mir dabei geholfen. In bisher drei Bänden widmen sich die Expert*innen des bzi industriellen Kernräumen Berlins: in Band 1 Spandau und Siemensstadt und in Band 2 Treptow und Köpenick.

Ende 2022 erschien die jüngste Publikation der Reihe über Charlottenburg und Moabit. Dafür haben sich die Herausgeber*innen und Autor*innen 20 herausragende Standorte ausgesucht, die in übersichtlichen und jeweils doppelseitigen Artikeln näher unter die Lupe genommen werden. So lese ich etwa über den Hamburger Bahnhof, das Robert Koch-Institut oder das AEG-Gelände an der Moabiter Huttenstraße mit seiner berühmten Turbinenhalle von Peter Behrens.

Die sinnfällige Gruppierung der Artikel nach Themen wie »Produktion und Energie«, »Mobilität und Versorgung« und »Wissenschaft und Technik« klingt vielleicht ein bisschen blutleer, hilft mir aber dabei, die besprochenen Bauten und ihre Funktionen im industriellen Gesamtgeflecht Berlins einzuordnen. Die Artikel bleiben allerdings nicht nur bei der historischen Darstellung stehen. Gerade die Thematisierung aktueller Entwicklungen und Potentiale der beschriebenen Standorte trägt zur Verbesserung meiner Brille bei.

Was mir besonders gut gefällt, ist die Mischung aus zeitgenössischer Architekturfotografie und historischen Aufnahmen. Und immer wieder gibt es eine Karte, die mir zeigt, wo ich mich gerade lesend befinde – Karten! Ich liebe sie!

Ein Wort noch zur Form. Der magazinhafte Band von 56 Seiten liegt gut in der Hand. Das Layout ist mir allerdings fast schon ein wenig zu streng, ich hab es gerne mit Ecken, Kanten und Kurven. Ein bisschen Abenteuer hätte hier schon sein dürfen!

Die letzte Seite offenbart dann noch eine Überraschung: Dem Band – wie seinen beiden Vorgängern auch – ist eine Radrouten-Karte beigegeben. Die führt mich an viele der besprochenen Orte Berliner Industriekultur. Das erfreut mein Herz besonders, denn seien wir mal ehrlich: Lesen ist zwar eine gute Sache, Hinfahren und Angucken macht aber noch viel mehr Spaß!


Berliner Zentrum Industriekultur, Joseph Hoppe & Nico Kupfer (Hg.)
Charlottenburg Moabit
Berliner Industriekultur – Die Metropole neu entdecken

Berliner Schriften zur Industriekultur, Band 3
Ammian-Verlag, 56 Seiten
ISBN 978-3-948052-58-4