Bak postacı geliyor

Es ist 1976 in Anka­ra. Die klei­ne Ben­gü und ihr Onkel neh­men gera­de eine Kas­set­te auf. Ben­gü singt ein Kin­der­lied: Bak post­acı geli­yor – Sieh nur, der Brie­trä­ger kommt. Im Lied war­ten alle neu­gie­rig auf den Brief­trä­ger. Hat er wohl etwas mit­ge­bracht? Danach spricht Ben­gü ein Gedicht ins Mikro­fon. Ihr Onkel ver­sucht sie zu ani­mie­ren, noch eini­ge Gruß­wor­te zu spre­chen: Ihre Stim­me wür­de ja auf­ge­nom­men und ihre Eltern könn­ten sie dann bald hören. Ben­gü ent­geg­net, sie hät­te nun kei­ne Lust, noch etwas zu sagen. Die Eltern wür­den im Som­mer ja eh kom­men und dann wür­de sie sie umar­men und küs­sen. Wie­so kön­ne sie die Eltern nicht ein­fach anru­fen, fragt Ben­gü ihren Onkel. Die­ser ant­wor­tet, dass das nicht so ein­fach mög­lich sei, dass die Eltern in Deutsch­land wären und das sei sehr weit weg.

1976 sind Ben­güs Eltern schon eini­ge Jah­re in der Bun­des­re­pu­blik. 1969 reist Ben­güs Mut­ter nach Mün­chen und fängt dort bei Sie­mens an zu arbei­ten. Zwei Jah­re spä­ter folgt der Vater. Ihre Toch­ter indes­sen bleibt in der Tür­kei. Denn die Betreu­ung eines Klein­kin­des in der deut­schen Frem­de erweist sich für die arbei­ten­den Eltern als über­aus schwie­rig. Kur­zer­hand bie­tet sich die Ver­wandt­schaft an, Ben­gü bei sich auf­zu­neh­men. Fort­an lebt sie bei den Groß­el­tern in Anka­ra. Die getrenn­te Fami­lie freut sich sehr auf die Som­mer­fe­ri­en. Denn dann kom­men Ben­güs Eltern zurück in die Tür­kei und sie machen gemein­sam Urlaub.

»Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen«

So oder so ähn­lich ergeht es sehr vie­len tür­ki­schen Fami­li­en in die­ser Zeit. Tür­ki­sche Arbeits­mi­gran­ten kom­men seit den spä­ten 1950er Jah­ren in die Bun­des­re­pu­blik, denn der Wirt­schafts­boom for­dert Arbeits­kräf­te. Schnell wer­den mit wei­te­ren euro­päi­schen Län­dern und Anrai­ner­staa­ten Anwer­be­ab­kom­men geschlos­sen, auch mit der Tür­kei. Die tür­ki­sche Regie­rung hat jedoch ein eben­so gro­ßes Inter­es­se am Trans­fer von Arbeits­kräf­ten, denn das rapi­de Bevöl­ke­rungs­wachs­tum im Land ver­ur­sacht hohe Arbeits­lo­sig­keit. Zunächst ver­ein­bart man ein »Rota­ti­ons­prin­zip«: Tür­ki­sche Arbeit­neh­mer sol­len für zwei Jah­re in deut­schen Betrie­ben arbei­ten dür­fen. Danach sol­len sie in die Tür­kei zurück­keh­ren und durch neue Arbei­ter ersetzt wer­den.

Lang­sam bür­gert sich für die Arbeits­mi­gran­ten in der Bun­des­re­pu­blik der Begriff »Gast­ar­bei­ter« ein, der die zeit­li­che Befri­stung des Auf­ent­hal­tes schon im Wort trägt. Das Rota­ti­ons­prin­zip für die tür­ki­schen Arbeit­neh­mer wird jedoch schnell außer Kraft gesetzt. Denn die deut­schen Unter­neh­men pro­te­stie­ren: Es rech­net sich ein­fach nicht, Arbei­ter immer wie­der aufs Neue anzu­ler­nen. Mit dem Rota­ti­ons­prin­zip fällt dann auch eine wei­te­re Rege­lung, die bis 1964 nur für die Tür­ken gilt: Das Ver­bot des Fami­li­en­nach­zugs. Das erleich­tert für die Ein­wan­de­rer vie­les. 1973 kommt es in West­deutsch­land jedoch unter dem Ein­druck der Ölkri­se zum Anwer­be­stopp aus­län­di­scher Arbeits­kräf­te. Man muss sich nun ent­schei­den: Ent­we­der dau­er­haft in die Tür­kei zurück­keh­ren oder in Deutsch­land blei­ben.

Die Erfahrung der Kofferkinder

Ben­gü ist jetzt beim Auf­neh­men der Kas­set­te etwas auf­ge­regt. Sie wähnt die Eltern »am ande­ren Ende der Lei­tung« und glaubt, dass sie sie wäh­rend der Auf­nah­me hören kön­nen. Sie möch­te jetzt die Stim­me ihrer Mut­ter hören, sagt sie dem Onkel. Doch der ent­geg­net, dass es lei­der nicht mög­lich sei, aber dass Onkel Veli bald die Kas­set­te mit Ben­güs Stim­me nach Deutsch­land zu den Eltern brin­gen wird. Dort wür­den sie eben­falls eine Kas­set­te auf­neh­men und Ben­gü zuschicken. Dann kön­ne sie die Stim­men ihrer Eltern hören.

In den 1970er Jah­ren beginnt die Mehr­heit der in der Bun­des­re­pu­blik leben­den tür­ki­schen Migran­ten, ansäs­sig zu wer­den. Aus dem Plan, nur ein paar Jah­re in der Frem­de zu arbei­ten, um genug anzu­spa­ren, sind nun fünf, sie­ben, zehn Jah­re gewor­den. Vie­le haben ihre Kin­der in der Tür­kei bei der Ver­wandt­schaft in Obhut gege­ben. Der Kof­fer als Sinn­bild des Weg­ge­hens der Eltern oder auch der Rast­lo­sig­keit des Pen­dels zwi­schen bei­den Län­dern gibt die­sen Kin­dern ihren Namen: Kof­fer­kin­der. Sie lei­den oft unter der Tren­nung, unter Ein­sam­keit und Ent­frem­dungs­ge­füh­len. Zwi­schen 1975 und 1985 wer­den sie all­mäh­lich aus der Tür­kei nach­ge­holt. Sie stel­len heu­te als Erwach­se­ne einen erheb­li­chen Teil der soge­nann­ten »zwei­ten Gene­ra­ti­on« der tür­ki­schen Ein­wan­de­rer in Deutsch­land.

Den Kontakt halten

Auch für die »erste Gene­ra­ti­on« spielt das Kon­takt­hal­ten mit den Kin­dern, der Fami­lie und den Freun­den in der Tür­kei in den 1960er und 1970er Jah­ren eine kaum zu unter­schät­zen­de Rol­le. Zwar sind inter­na­tio­na­le Tele­fon­ge­sprä­che mög­lich, aller­dings auch alles ande­re als kosten­gün­stig. Das Auf­neh­men von Hör­brie­fen hin­ge­gen bie­tet einen wich­ti­gen Vor­teil, denn: Man kann die Kas­set­ten immer und immer wie­der abspie­len und so die Stim­men und Geschich­ten der Ver­wandt­schaft immer wie­der aufs Neue anhö­ren. Dar­über hin­aus kom­mu­ni­ziert man mit allen her­kömm­lich zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln. Im Fal­le von Ben­güs Fami­lie sind es unzäh­li­ge Brie­fe, Post­kar­ten, klei­ne Büch­lein oder Fotos mit kur­zen Bot­schaf­ten, die man hin und her schickt. Sie alle stär­ken die Ver­bin­dung und hal­ten das sozia­le Netz zwi­schen den Ein­wan­de­rern und den in der Hei­mat Geblie­be­nen am Leben.

Das sozia­le Netz ist auch The­ma im ersten Haupt­be­reich »Con­nect« der Aus­stel­lung »Das Netz« des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums. Hier geht es um den Men­schen als Nut­zer von Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­net­zen und zuvor­derst auch um die Fra­ge: War­um ver­net­zen wir uns über­haupt? Der Hör­brief, der 2015 als Leih­ga­be des Doku­men­ta­ti­ons­zen­trums und Muse­ums über die Migra­ti­on in Deutsch­land (DOMiD) Teil der Aus­stel­lung wur­de, und die damit ver­bun­de­ne Hör­sta­ti­on, erhel­len hier den Hin­ter­grund einer Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kul­tur in einer Welt, die schon immer durch Migra­ti­on geprägt wur­de. Frei­lich sind die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en von damals ande­ren gewi­chen. Wo Brief­post und Ton­band über Jahr­zehn­te hin­weg zeit­ver­zö­gert für Ver­bin­dung sorg­ten, sind es heu­te Smart­phones und Mes­sen­ger-Dien­ste, die die sekun­den­schnel­le Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen neu­er und alter Hei­mat bestim­men.

Sei­te eins der Kas­set­te ist jetzt zu Ende. Auf Sei­te zwei kom­men auch ande­re Fami­li­en­mit­glie­der dazu, die Tan­te und die Groß­el­tern von Ben­gü sowie Onkel Veli. Ben­gü erzählt nun, was sie alles gelernt hat: von Buch­sta­ben über Far­ben, Zah­len und Tier­na­men. Dann spre­chen die ande­ren ihre ganz per­sön­li­chen Bot­schaf­ten auf und berich­ten über die Ent­wick­lung der Toch­ter. Sie darf eine Schall­plat­te aus­su­chen, im Hin­ter­grund spielt jetzt Erol Evgin. Mit der sech­zig­sten Minu­te ist das Ende des Ton­ban­des erreicht. Alle schicken noch ein­mal Grü­ße und die besten Wün­sche nach Deutsch­land.


Zuerst ver­öf­fent­licht in: Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin, Freun­de und För­de­rer des Deut­schen Tech­nik­mu­se­ums Ber­lin e.V. (Hg.): Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin, Heft 2, Ber­lin 2018.
Objekt­fo­to: Cle­mens Kirch­ner, Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin


Lite­ra­tur:

Bade, Klaus J./Emmer, Pie­ter C./Lucassen, Leo/Oltmer, Jochen (Hg.): Enzy­klo­pä­die Migra­ti­on in Euro­pa. Vom 17. Jahr­hun­dert bis zur Gegen­wart, Pader­born, Mün­chen, Wien, Zürich 2010.

Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum und Muse­um über die Migra­ti­on in Deutsch­land (DOMiD): Tran­skrip­ti­on des Hör­briefs, Köln 2015.

Wil­helm, Gül­cin: Gene­ra­ti­on Kof­fer. Die Pen­del­kin­der der Tür­kei, Ber­lin 2011.