Freiheit statt Angst

In den alten See­fah­rer­le­gen­den ist er ein furcht­ein­flö­ßen­des Mee­res­un­ge­heu­er: der Kra­ke. Kein Segel­schiff ist vor ihm sicher. Das rie­sen­gro­ße Geschöpf wickelt sei­ne acht lan­gen Arme mühe­los um Schiffs­rumpf und Masten. Die Besat­zung ver­sucht noch, sich in Sicher­heit zu brin­gen, doch es ist schon zu spät: Der Kra­ke zieht das gan­ze Schiff mit Mann und Maus zu sich hin­un­ter in die Tie­fen des Oze­ans. Auch in der psy­cho­ana­ly­ti­schen Traum­deu­tung wird er mit ungu­ten Gefüh­len asso­zi­iert. Hier steht er unter ande­rem für die Angst vor dem Fest­ge­hal­ten- und Ver­schlun­gen­wer­den. Auch das Ver­mö­gen, sei­ne Kör­per­far­be dem Unter­grund ent­spre­chend zu ändern und sei­ne »wah­re Gestalt« zu ver­schlei­ern, wirkt alles ande­re als ver­trau­ens­wür­dig. Man merkt: Kra­ken haben es nicht gera­de leicht, einen posi­ti­ven Ein­druck zu hin­ter­las­sen.

Des­we­gen wer­den die Tie­re, die harm­los und über­aus intel­li­gent sind und am lieb­sten in fla­chen Mee­res­re­gio­nen ihr kur­zes Leben ver­brin­gen, ger­ne für die poli­ti­sche Kari­ka­tur ver­wen­det. Spä­te­stens seit Ende des 19. Jahr­hun­derts tau­chen sie immer wie­der als Sym­bol­tie­re für Mono­po­li­sten, dik­ta­to­ri­sche Staa­ten oder ver­schwö­re­ri­sche Orga­ni­sa­tio­nen auf – nicht sel­ten auch unter anti­se­mi­ti­schen Vor­zei­chen –, zumeist mit­hil­fe der Arme ihre Opfer wür­gend oder zu sich her­an­zie­hend. Anfang der 2000er Jah­re wird die Kra­ken-Meta­pher wie­der­be­lebt. Nach den New Yor­ker Anschlä­gen am 11. Sep­tem­ber 2001 wer­den welt­weit die staat­li­chen Sicher­heits­ge­set­ze ver­schärft. Die Fol­ge: staat­li­che Über­wa­chung nie gekann­ten Aus­ma­ßes, Beschnei­dung von Daten­schutz und Bür­ger­rech­ten. Der Kra­ke taucht nun wie­der als »Daten­kra­ke« auf, als ein Geheim­dienst, eine staat­li­che Stel­le, auch ein Wirt­schafts­un­ter­neh­men, das unge­fragt alle ver­füg­ba­ren Infor­ma­tio­nen über Bür­ger und Kun­den sam­melt.

Die Geburt Ottos aus dem Geist des Datenschutzes

Som­mer 2008. Dem Ber­li­ner Künst­ler und Akti­vi­sten Peter Ehren­traut steht der Schweiß auf der Stirn. Gera­de flicht er einen wei­te­ren Ring aus bieg­sa­mem Rat­tan. Er ist Teil eines lan­gen Schlauchs und gehört zum Fang­arm eines ziem­lich gro­ßen Kra­ken­mo­dells. Die Ent­fer­nung zwi­schen den Enden zwei­er Arme beträgt 18 Meter. Spä­ter wird Ehren­traut das beweg­li­che Rat­tan-Ske­lett mit Stoff über­zie­hen und die­sen mit Latex bestrei­chen. Der Kra­ke bekommt fieb­rig-gel­be Augen, sein Kör­per hat einen schwar­zen Anstrich. Dar­auf malt Ehren­traut lau­ter Nul­len und Ein­sen, den digi­ta­len Binär­code. Nach drei Mona­ten ist der Daten­kra­ke fer­tig. Ange­lehnt an den dama­li­gen Bun­des­in­nen­mi­ni­ster Otto Schi­ly, wird er »Otto« getauft.

Ent­wor­fen und gebaut hat ihn Ehren­traut für den Foe­Bud, den »Ver­ein zur För­de­rung des öffent­li­chen und unbe­weg­ten Daten­ver­kehrs e. V«. Der Foe­Bud, der sich spä­ter in »Digi­tal­cou­ra­ge e.V.« umbe­nennt, setzt sich seit sei­ner Grün­dung 1987 für Daten­schutz sowie unge­hin­der­te Kom­mu­ni­ka­ti­on ein. Er ist Unter­stüt­zer und Mit­or­ga­ni­sa­tor von Demon­stra­tio­nen, die unter dem Namen »Frei­heit statt Angst« bekannt wer­den. 2008 ist Otto dort zum ersten Mal mit von der Par­tie. Die Kon­struk­ti­on ist mit diver­sen Stä­ben aus­ge­rü­stet, mit denen die Demon­stran­ten das etwa zehn Kilo schwe­re Unge­tüm durch die Stra­ßen Ber­lins tra­gen kön­nen.

Protestieren gegen Überwachung

Die erste »Frei­heit statt Angst«-Demonstration fin­det 2006 in Bie­le­feld statt. Zunächst ist der Pro­test gegen wirt­schaft­li­che und staat­li­che Über­wa­chung noch recht ver­hal­ten. Gera­de mal 250 Men­schen demon­strie­ren damals auf den Stra­ßen der Bie­le­fel­der Innen­stadt. Gekom­men sind Künst­ler, Wis­sen­schaft­ler, Schü­ler und Stu­den­ten. Die Anlie­gen der klei­nen Schar, wie Daten­schutz, Frei­heits­rech­te und Pri­vat­sphä­re, sind schwer zu ver­mit­teln­de The­men. Bei der anschlie­ßen­den Abend­ver­an­stal­tung kom­men immer­hin schon 400 Per­so­nen. Der Foe­Bud ver­leiht den »Big Brot­her Award«. Preis­trä­ger sind Unter­neh­men, Insti­tu­tio­nen, Orga­ni­sa­tio­nen und Per­so­nen, die durch ekla­tan­te Ver­stö­ße gegen Daten­schutz und Pri­vat­sphä­re sowie durch man­geln­de Trans­pa­renz auf­fal­len. Ver­ge­ben wer­den die Prei­se in den Kate­go­rien Poli­tik, Tech­nik, Behör­den und Ver­wal­tung sowie Ver­brau­cher­schutz. Die Aus­ge­zeich­ne­ten erschei­nen jedoch nur sel­ten zur Ver­lei­hung – ein Preis ohne Preis­trä­ger sozu­sa­gen.

2007 wächst der Pro­test unter dem Mot­to »Frei­heit statt Angst«. Gleich in meh­re­ren Städ­ten wird demon­striert. Zur Haupt­kund­ge­bung in Ber­lin strö­men etwa 15.000 Men­schen. 2008 stei­gen Teil­neh­mer- und Orga­ni­sa­to­ren­zah­len in unge­ahn­te Höhen. Auf der Ber­li­ner Haupt­kund­ge­bung zählt man nun 50.000 Teil­neh­mer, 117 Orga­ni­sa­tio­nen unter­stüt­zen den Pro­test­marsch – und Otto ist mit­ten­drin. In wei­te­ren 34 Städ­ten in Deutsch­land gehen die Men­schen auf die Stra­ße. Die Pro­te­ste schwel­len an, die The­men gera­ten mehr und mehr in den Fokus einer brei­ten Öffent­lich­keit. Das hat auch damit zu tun, dass sich ekla­tan­te Miss­ach­tun­gen des Daten­schut­zes häu­fen, nicht nur im klei­nen Rah­men, son­dern euro­pa­weit. Eine beson­de­re Bedeu­tung bekommt 2007 und 2008 – neben ande­ren The­men – die soge­nann­te Vor­rats­da­ten­spei­che­rung.

Die Daten der Bürger auf Vorrat gespeichert

Das Gesetz zur Vor­rats­da­ten­spei­che­rung tritt am 1. Janu­ar 2008 in Kraft. Damit wer­den Anbie­ter von Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­dien­sten ver­pflich­tet, Ver­kehrs- und Stand­ort­da­ten sowie Gerä­te­num­mern ihrer Kun­den für einen Zeit­raum von min­de­stens sechs Mona­ten auf »Vor­rat« zu spei­chern. Gespei­chert wer­den dem­nach Daten zu ein- und abge­hen­den Tele­fon­ver­bin­dun­gen, zum Han­dy­stand­ort, zu IP-Adres­sen oder E‑Mail-Ver­bin­dungs­da­ten. Damit las­sen sich detail­lier­te Rück­schlüs­se auf die kon­kre­te Lebens­si­tua­ti­on der Betrof­fe­nen zie­hen. Die eigent­li­chen Inhal­te der Kom­mu­ni­ka­ti­on wer­den dazu nicht benö­tigt. Zugriff haben Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den und Geheim­dien­ste nach rich­ter­li­chem Beschluss. Begrün­det wird das Gesetz, neben der Pflicht zur Umset­zung der EU-wei­ten Richt­li­nie zur Vor­rats­da­ten­spei­che­rung, mit der Bekämp­fung von orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät und Ter­ro­ris­mus.

In der Argu­men­ta­ti­on sei­ner Kri­ti­ker stellt das Gesetz durch die anlass­lo­se Spei­che­rung jede und jeden unter Gene­ral­ver­dacht. Ver­stö­ße gegen eine gan­ze Rei­he von Geset­zen und Bür­ger­rech­ten wer­den ange­mahnt, etwa gegen das Brief‑, Post- und Fern­mel­de­ge­setz, das Recht auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung oder gegen das Grund­recht auf Unver­letz­lich­keit der eige­nen Woh­nung. Dar­über hin­aus geben die Geg­ner zu beden­ken, dass die Spei­che­rung einer so gro­ßen Men­ge von Daten kri­mi­nel­len Miss­brauch gera­de­zu anzie­he. Letzt­lich stel­le das Gesetz die offe­ne Gesell­schaft im Gan­zen in Fra­ge, da die­se grund­le­gend nur auf einer unbe­fan­ge­nen und unüber­wach­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on ihrer Mit­glie­der basie­ren kön­ne.

Neben der Kri­tik an der Vor­rats­da­ten­spei­che­rung, die zwei Jah­re spä­ter durch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt als ver­fas­sungs­wid­rig ein­ge­stuft wird, haben die Demon­stran­ten eine gan­ze Rei­he wei­te­rer Maß­nah­men im Auge. So stel­len sie sich etwa auch gegen die Ein­füh­rung bio­me­tri­scher Aus­weis­do­ku­men­te, gegen die elek­tro­ni­sche Gesund­heits­kar­te oder gegen Online-Durch­su­chun­gen von pri­va­ten Com­pu­tern. Ziel­schei­be des Pro­test ist unter ande­rem der dama­li­ge Innen­mi­ni­ster Wolf­gang Schäub­le (CDU), der die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung maß­geb­lich auf den Weg bringt: Ein oft ver­wen­de­tes Bild zeigt ihn mit dem dar­un­ter befind­li­chen Schrift­zug »Sta­si 2.0«.

Sensibilität für Datenschutz in Deutschland

Die Demon­stra­tio­nen sind in die­ser Zeit nicht nur auf Deutsch­land beschränkt. Am 11. Okto­ber 2008 fin­den Aktio­nen und Kon­fe­ren­zen unter dem Mot­to »Free­dom not Fear« in ins­ge­samt 15 Län­dern statt. In Deutsch­land sind die Teil­neh­mer­zah­len und die media­le Bericht­erstat­tung am höch­sten. Die Pro­te­ste gel­ten als größ­te Daten­schutz­ak­tio­nen seit dem Volks­zäh­lungs­boy­kott in der Bun­des­re­pu­blik 1987. Auch damals ist der Kra­ke schon das Sym­bol­tier für den daten­fres­sen­den Staat. Eigent­lich soll die Volks­zäh­lung schon 1983 statt­fin­den, wird jedoch durch ein Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, in dem erst­mals auch das Recht auf infor­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung for­mu­liert wird, aus­ge­setzt. Nach Mei­nung der Kri­ti­ker und Klä­ger lässt der eigent­lich anony­mi­sier­te Volks­zäh­lungs­bo­gen Rück­schlüs­se auf die Iden­ti­tät der Befrag­ten zu. Man befürch­tet den »glä­ser­nen Bür­ger«.

Für die Volks­zäh­lung, die dar­auf­hin im Jahr 1987 statt­fin­det, müs­sen die Befra­gungs­bö­gen ent­spre­chend des Urteils geän­dert wer­den. Trotz­dem stellt sich eine brei­te Front aus Initia­ti­ven und Orga­ni­sa­tio­nen gegen die Volks­zäh­lung und ruft zum Boy­kott auf. Auch Mit­glie­der der jüdi­schen Gemein­den, die sich noch gut an die Fra­gen zur »Abstam­mung« in der Volks­zäh­lung 1939 erin­nern kön­nen, gehö­ren zu den stärk­sten Kri­ti­kern der neu­en Erhe­bung. Die Über­wa­chungs- und Repres­si­ons­er­fah­run­gen im Natio­nal­so­zia­lis­mus, aber auch die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Über­wa­chungs­re­gime der DDR sind dafür ver­ant­wort­lich, dass die Daten­schutz­lob­by in Deutsch­land stär­ker ist als in ande­ren Län­dern. Nichts­de­sto­trotz geben auch wir tag­täg­lich den gro­ßen Inter­net­kon­zer­nen wie Goog­le und Face­book oft unter­hin­ter­fragt unse­re Daten. Die Ära der Daten­kra­ken ist somit nicht vor­bei. Staat­li­che Insti­tu­tio­nen und glo­bal agie­ren­de Unter­neh­men höh­len den Daten­schutz welt­weit aus und sind nur schwer in den Griff zu bekom­men.


Zuerst ver­öf­fent­licht in: Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin (Hg.): Netz-Din­ge. 30 Geschich­ten. Vom Tele­gra­fen­ka­bel bis zur Daten­bril­le, Ber­lin 2018.
Objekt­fo­to: Cle­mens Kirch­ner, Stif­tung Deut­sches Tech­nik­mu­se­um Ber­lin


Lite­ra­tur:

Gen­sing, Patrick: Het­zen mit Tie­ren, 2012. (Stand 17.10.2017)

Lüke, Falk: Ein Preis, den kei­ner will, 2006. (Stand 17.10.2017)

Pieg­sa, Jan: Netz­ak­ti­vi­sten als Bür­ger­recht­ler, 2007. (Stand 17.10.2017)

Berg­mann, Nico­le: Volks­zäh­lung und Daten­schutz. Pro­te­ste zur Volks­zäh­lung 1983 und 1987 in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Ham­burg 2009.

Tin­ne­feld, Marie-The­re­s/­Buch­ner, Benedikt/Petri, Tho­mas: Ein­füh­rung in das Daten­schutz­recht. Daten­schutz und Infor­ma­ti­ons­frei­heit in euro­päi­scher Sicht, Mün­chen 2012.

Arbeits­kreis Vor­rats­da­ten­spei­che­rung (Hrsg.): „Ich habe doch nichts zu ver­ber­gen!“ – Irr­tü­mer und Popu­lis­men zu Vor­rats­da­ten­spei­che­rung und Über­wa­chung, 2012. (Stand 17.10.2017)